Michael Müller über das Aus für Hartz IV: „Das wird die Linkspartei ärgern“

Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) will Hartz IV abschaffen. Sein Alternativkonzept: das Solidarische Grundeinkommen.

Michael Müller, Berlins Regierender Bürgermeister, steht in seinem Büro, hinter sich ein hölzernes Zirkuspferd, und blickt visionär in die Ferne

Hat eine Idee für Langzeitarbeitlose: Michael Müller Foto: Christian Thiel

taz: Herr Müller, wie ist es denn so auf Facebook?

Michael Müller: Na, da fragen Sie ja den Richtigen.

Sie haben gerade Ihre Facebookseite als Regierender Bürgermeister gestartet. Glückwunsch! Nicht nur die SPD, auch Sie erneuern sich.

Ich bin als SPD-Landeschef ja schon länger bei Facebook, aber jetzt eben offiziell auch über die Berliner Senatskanzlei. Das gehört zur heutigen Kommunikation dazu. Ich freu' mich auf die Reaktionen.

Beginnen wir mit einem kleinen Spiel. Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze: Hartz IV ist …

… dringend reformbedürftig.

Die SPD ist zurzeit …

… auf einem guten Weg.

Regierender Bürgermeister Müller hat im Dezember 2014 den langjährigen Regierungschef Berlins, Klaus Wowereit, abgelöst. Seit Ende 2016 steht er der bundesweit einzigen rot-rot-grünen Koalition auf Landesebene unter SPD-Führung vor. Nach aktuellen Umfragen verfügt R2G auch weiterhin über eine Mehrheit; seit Jahren liegen SPD, Grüne, Linkspartei und CDU bei etwa 20 Prozent nahezu gleich auf.

Bundesratspräsident Müller ist derzeit auch Chef des Bundesrats – ein Amt, für das er freilich nichts kann. Es rotiert jährlich unter den Länderchefs und beginnt jeweils am 1. November. Als Einstand im Herbst 2017 hatte Müller seine Idee des „solidarischen Grundeinkommens“ in die politische Debatte eingebracht – damals schien im Bund alles auf eine Jamaika-Koalition ohne die SPD hinauszulaufen.

Der Mann Müller gehört zum bodenständigen Flügel der Sozialdemokraten. Der Berliner SPD-Landeschef ist verheiratet, hat zwei Kinder. Der gelernte Drucker hat lange im Betrieb seines Vaters gearbeitet. Bevor er Regierungschef wurde, war er als Stadtentwicklungssenator unter anderem für den Bau dringend benötigter Wohnungen in Berlin verantwortlich. (bis)

Die SPD und Hartz IV, das ist wie …

(überlegt lange) Sagen wir: eine Beziehung mit Höhen und Tiefen.

Welche Folgen hatte aus Ihrer Sicht die Einführung von Hartz IV für die SPD?

Früher gab es ein Grundvertrauen; die SPD war ganz selbstverständlich die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Das ist auch so und nach wie vor unser wichtigstes Anliegen. Aber mit der Agendapolitik ist dieses Vertrauen verloren gegangen. Es ist an der Zeit, dass wir uns ehrlich machen.

Das heißt?

Wir müssen uns kritisch mit dieser Reform auseinandersetzen. Mit der Einführung von Hartz IV hat es einen tiefen Bruch zwischen der SPD und ihrer Wählerschaft gegeben. Viele haben diese Reform als zutiefst ungerecht empfunden, weil sie ihre Lebensleistung nicht respektiert. Das ist etwas, was wir bis heute spüren. Zum Beispiel im letzten Bundestagswahlkampf. Wenn ich am Infostand Flyer verteilen wollte, sagten die Leute: „Solange ihr eure Agendapolitik macht, kannste die Flyer behalten.“

Sie werben seit einigen Monaten für Ihr Konzept eines Solidarischen Grundeinkommens. Ist auch das ein Versuch, es wieder zu richten?

Vor allem geht es darum, auf neue Herausforderungen mit neuen Ideen zu antworten. Unser Zusammenleben und die Arbeitswelt verändert sich mit der Digitalisierung dramatisch. An so einem Punkt muss man auch die alten Konzepte wie die Agenda 2010 selbstkritisch hinterfragen. Wenn wir in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik etwas neu verabreden wollen, ist dafür jetzt ein guter Zeitpunkt.

Ihr Konzept sieht vor, dass Langzeitarbeitslose gemeinnützige Jobs verrichten sollen, die der Staat finanziert.

Mein Grundgedanke ist, den Menschen nicht durch Alimentierung, sondern durch Arbeit ein Auskommen zu sichern. Es geht darum, den Wert von Arbeit in den Mittelpunkt zu rücken. Das geht am ehesten über feste, unbefristete Stellen mit Sozialversicherung und einer Bezahlung nicht unter dem Mindestlohn. Gleichzeitig gibt es viele Aufgaben in unserer Gesellschaft, die dringend für ein besseres Zusammenleben erledigt werden müssen. Das Solidarische Grundeinkommen will das zusammenzuführen. Man gibt den Menschen Arbeit und eine Aufgabe für die Gemeinschaft, über die sie sich definieren können. Das hat für viele einen hohen Stellenwert.

Der Begriff Solidarität beschreibt aber traditionell etwas Größeres als eine Beschäftigungsmaßnahme.

Mein Modell bedeutet Solidarität in beide Richtungen: Der Staat zeigt sich solidarisch, weil er mehr leistet als Menschen in Not nur Hartz IV zu zahlen. Die Menschen sind solidarisch, indem sie ihre Arbeitskraft einbringen. Aber ich weiß, nicht alle teilen meine These vom Wert der Arbeit. Deshalb gibt es ja auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Da bekommt jeder Geld, ohne etwas dafür zu tun.

Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, also mit einer Zahlung an alle, hat Ihr Modell nichts zu tun. Warum der Etikettenschwindel?

Das ist kein Etikettenschwindel. Mir geht es sehr wohl um ein Grundeinkommen im Sinne eines Mindesteinkommens, das wir Menschen ohne Arbeit anbieten. Ich habe es bewusst mit dem Zusatz „Solidarisch“ verbunden um es vom „Bedingungslosen“ Grundeinkommen abzugrenzen – verschieden Adjektive beschreiben den Begriff Grundeinkommen eben anders. Aber entscheidend ist doch, dass wir in eine Diskussion über die bisherige und künftige Arbeitsmarktpolitik kommen. Wenn der Begriff des Grundeinkommens mit dazu führt, dann finde ich das gut – auch wenn das einige zu Widerspruch reizt,

Die Diskussion anzustoßen ist Ihnen tatsächlich gelungen. Ist das Solidarische Grundeinkommen der Anfang vom Ende von Hartz IV?

Möglicherweise – aber das kann ich noch nicht beurteilen. Ich will mich da nicht verheben. Ich habe als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundesratspräsident diese Diskussion angestoßen. Und ich führe sie mit vielen weiter – mit den Gewerkschaften, Arbeitsmarktpolitikern und auch mit dem Bundesarbeitsminister.

Sie haben anfangs gesagt, die SPD müsse von Hartz IV loskommen. Ihr Vorschlag ergänzt aber nur das Hartz IV-System, es stellt es nicht grundsätzlich in Frage.

Wir sind erst am Beginn der Debatte. Das bisherige Arbeitslosensystem ist ein Riesen-Apparat. Jetzt werden wir sehen, ob es finanziell und organisatorisch die Grundlage gibt, um komplett umzusteuern. Allerdings geht das nur gemeinsam. Ich kann nicht allein das Hartz IV-System ablösen.

Wieso so defensiv: Sie haben eine Debatte angestoßen, warum gehen Sie nicht weiter, fordern mehr? Sie könnten einfach sagen: Lasst uns mit Hartz IV abschließen!

Okay, dann sage ich das hiermit! Ich möchte diese 15 Jahre alte Arbeitsmarktreform perspektivisch überwinden. Aber was wir zunächst konkret erreichen können, ist eine neu ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik mit einer sozial orientierter Beschäftigung statt Langzeitarbeitslosigkeit.

Was Sie vorschlagen, ist so neu nicht: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Ein-Euro-Jobs, der öffentliche Beschäftigungssektor ÖBS, den es bis 2011 in Berlin gab – bei all diesen Maßnahmen ging es und geht es darum, Langzeitarbeitslose in gemeinnützige Jobs zu bringen.

Ja, wir hatten zu anderen Zeiten verschiedene Beschäftigungsmaßnahmen. Jetzt wollen wir unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen einen anderen, besseren Weg versuchen. Zum Beispiel wissen wir, dass es ein Problem ist, öffentliche Jobs auf wenige Monate oder auch maximal ein oder zwei Jahre zu befristen. Da sehen die Menschen keine Perspektive für sich. Deshalb sage ich, wir brauchen unbefristete Arbeitsverträge.

Das wäre für die Erwerbslosen tatsächlich eine deutliche Verbesserung. Aber was, wenn in fünf Jahren doch kein Geld mehr in der Kasse ist, die Leute aber unbefristete Verträge haben?

Ob ABM-Stellen, der Öffentliche Beschäftigungssektor in Berlin oder jetzt das Solidarische Grundeinkommen: Nichts ist für die Ewigkeit. Das Wesen von Politik ist aber, auf neue Anforderungen zu reagieren. Natürlich haben wir den Anspruch, dass Menschen eine Tätigkeit auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt finden. Weil das aber trotz boomender Wirtschaft nicht für alle gelingt, sage ich: Wir müssen den Leuten eine Perspektive bieten. Auch, damit sie sich aus der öffentlichen Beschäftigung heraus bewerben und andere Stellen – auch auf dem ersten Arbeitsmarkt – finden. Dazu gehört im Übrigen auch, wenn sie sich in den kommunalen Unternehmen beruflich weiter entwickeln.

Wenn die Arbeitsbedingungen so gut sind, warum sollten sie sich weg bewerben?

Weil das im Arbeitsleben ganz normal ist. Es wird aber auch viele geben, die bleiben. Warum auch nicht? Sie verrichten sinnvolle Tätigkeiten, die wir dauerhaft brauchen.

Die öffentliche Beschäftigung in Berlin war damals vor allem ein Anliegen der Linkspartei, die SPD hat sich dagegen gesträubt. Wieso nun der Sinneswandel?

Der ÖBS war für relativ wenig Leute sehr teuer und für Berlin schwer zu finanzieren. Er hatte auch nicht die erhofften Effekte. Damals haben wir Tätigkeiten schlicht erfunden. Es wurde gefragt: Was machen wir mit dem DDR-Wissenschaftler, den keiner mehr einstellt? Also wurde überlegt, dass er eine Chronik für einen Bezirk schreiben kann. Das geht nicht! Die Leute wollen ernst genommen werden. Sie sollen echte Arbeiten erledigen, keine erfundenen.

Welche sollen das denn sein?

Wir könnten die Menschen als Integrationshelfer für Flüchtlinge beschäftigen, als Mobilitätsbegleiter im öffentlichen Nahverkehr, als Pausenaufsicht in Schulen oder Conciergedienste bei Öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften. Da gibt es vieles. Und wir werden das natürlich mit den Tarifpartnern abstimmen.

Wenn eine Arbeit gesellschaftlich wirklich notwendig ist, dann sollte der Staat dafür Leute doch richtig einstellen.

Das tun wir auch. Wir stellen in großem Umfang Menschen ein im öffentlichen Dienst, zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, Erzieher. Da wird überhaupt nicht gespart. Aber zum Beispiel im Schulalltag gibt es viele unterstützende Tätigkeiten jenseits der Fachkräfte, die entlastend wirken können. Wir hatten im sensiblen Bereich von Pflege und Gesundheit über Jahrzehnte hunderttausende Zivildienstleistende. Die haben keinen Pfleger ersetzt, aber unwahrscheinlich geholfen. Und vergessen Sie nicht: das Solidarische Grundeinkommen bietet ja eben richtige Jobs.

Ihr Parteikollege und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil plant einen sozialen Arbeitsmarkt für 100.000 bis 150.000 Langzeitarbeitslose. Berlin würde dafür gerne mit einem Modellprojekt Vorreiter sein. Klappt das?

Wenn wir vom Bund die vorgesehenen Mittel als Ko-Finanzierung und den rechtlichen Rahmen für ein Modellprojekt bekommen, dann gerne.

Die SPD diskutiert zurzeit intensiv über die Chancen für eine inhaltliche und personelle Erneuerung, noch dazu in Regierungsverantwortung. Ist die Debatte über das Solidarische Grundeinkommen ein Beispiel, wie das laufen sollte?

Ich hoffe, dass das ein Baustein ist. Wir müssen wieder das Grundvertrauen vermitteln, dass wir die Partei der sozialen Gerechtigkeit sind. Wichtig ist auch, dass Andrea Nahles als kraftvolle Partei- und Fraktionsvorsitzende die SPD-Positionen sichtbarer macht. Und ich hoffe sehr, dass wir im Fall der öffentlichen Investitionen noch mal unsere bundespolitische Linie überprüfen …

also die Position von Finanzminister Olaf Scholz, auf gar keinen Fall Schulden zu machen…

Wir sehen in Berlin: Zehn Jahre sparen und den Haushalt konsolidieren, war nötig und richtig. Aber man kann das nicht dauerhaft machen. Das gilt auch auf Bundesebene: Wir haben Kommunen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, die brauchen nach Jahren der klammen Kassen dringend Investitionen, etwa in die Infrastruktur. Das muss ein Thema für die SPD im Bund werden. Ebenso wie die Mieten- und Wohnungspolitik. Es geht bei sozialer Gerechtigkeit um mehr als Arbeitsmarktpolitik.

Was erwarten Sie von der neuen Fraktions- und Parteichefin Andreas Nahles?

Sie ist nicht zu übersehen und zu überhören, und das ist genau richtig. Gerade weil es nicht so einfach ist, als Juniorpartner in einer großen Koalition mit eigenen Positionen durchzudringen.

Wobei die CSU in den letzten Wochen deutlich lauter zu hören war als Frau Nahles und die SPD.

Aber mit Dummheiten! Da ist die CSU wirklich unschlagbar.

Aber stimmt es nicht zumindest ein bisschen, dass von der CSU lernen siegen lernen heißt?

Das geht zu weit. Im politischen Wettstreit muss es um kluge Konzepte gehen, nicht um bloße Provokationen auf Kosten von Minderheiten. Das ist das Lieblingsspiel der CSU; dafür wird sich die SPD mit Sicherheit nicht hergeben.

Gibt es nicht auch einen linken Populismus?

Populismus hat einen negativen Beigeschmack, weil er ausschließt und auf Kosten anderer geht. So will ich nicht wahrgenommen werden. Und ich kenne auch kein positives Beispiel für linken Populismus.

Also Seriosität first?

Das ist zumindest mein Weg.

Sie wildern inhaltlich ziemlich im Bereich der Linkspartei. Einen Begriff wie das Solidarische Grundeinkommen könnte man, inhaltlich anders definiert, genauso dort unterbringen.

Da ist die Linke aber nicht drauf gekommen! (lacht) Was sie wahrscheinlich mächtig ärgert.

Liegt die Zukunft der SPD in Feldern, die traditionell die Linke besetzt?

Wir sind in einem politischen Wettbewerb. Auch was unsere Ideen für mehr soziale Gerechtigkeit betrifft. So ist das nun mal. Aber es geht mir nicht nur um Parteiinteressen, sondern darum, uns für die nächsten Jahre inhaltlich gut aufzustellen. Dabei habe ich auch nichts gegen einen politischen Austausch zwischen SPD und Linkspartei.

In Berlin gelten Sie nicht unbedingt als Parteilinker, eher als Pragmatiker. Sie waren SPD-Chef, als 2011 der ÖBS wieder abgeschafft wurde. Wir nehmen da aktuell eine gewisse Verschiebung wahr. Warum soll man Ihnen das abnehmen?

Altersradikalität! (lacht) Nein, es ist (überlegt) …

die pure Not? Die Wahlergebnisse der Berliner SPD unter ihrem Vorsitz 2016 und 2017 in Berlin waren alles andere als berauschend.

Mir ist es mit der neuen Arbeitsmarktpolitik wirklich ernst. Altersradikalität ist etwas zuspitzend, aber ich habe mich mit meiner politischen Aufgabe als Regierender Bürgermeister verändert. Ich sehe deutlicher als früher, wo Dinge aus dem Ruder laufen. Niemand kann wegdiskutieren, dass es in unserem Land und unserer Stadt große Ungerechtigkeiten gibt. Einige stellen sich trotz guter Gewinne ihrer Unternehmen nicht ihrer Verantwortung und leisten keinen Beitrag dazu, dass es dieser Gesellschaft besser geht.

Wenn Sie sagen, soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Politik zu rücken ist linke Politik und ich würde diese Positionen stärker betonen, dann nehme ich das gerne an.

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