Autor Rettig über Marx Jubiläum: „Die Sinnlichkeit des Denkens“

Die Schwankhalle feiert den Jubilar Karl Marx: Den Auftakt macht am Donnerstag Michael Rettig mit einer Bühnenfassung von „Das Kapital, Band 1“.

Wünscht sich keine offenen Grenzen: Michael Rettig (li.) Foto: Schwankhalle

taz: Herr Rettig, Sie haben eine Textorgie vorbereitet?

Michael Rettich: Genau.

Warum ist das die richtige Form, um Menschen heute mit Karl Marx zu konfrontieren?

Weil mich bei Marx in erster Linie die Theorie interessiert. Und weil es mir um die Sinnlichkeit des Denkens geht – und nur in zweiter Linie um die Sinnlichkeit der Anschauung: Wenn Ralf Knapp als Schauspieler die Originaltexte von Marx auf die Bühne bringt und erfahrbar macht, ist das etwas ganz anderes, als sie zu lesen.

Werden sie dadurch eingängiger?

Ich glaube schon. Doch, es sollte dadurch eingängiger werden.

Nun haben Sie ja nicht das ganze Werk für die Bühne eingerichtet, sondern eine Art Querschnitt vom „Kapital“…

Michael Rettig, Jahrgang 1956, Pianist, Regisseur und Autor, hat an der Uni Bremen Deutsch, Kunst und Musik studiert, war AStA-Vorsitzender, im marxistischen Studentenbund Spartakus und im Kapitalkurs bei Jörg Huffschmid. Sein erste s Musiktheaterstück war „Wie man dem toten Hasen die Ökonomie erklärt. (Beuys)“. Seitdem hat er neben Konzerten viele Produktionen meist zu politischen Themen gemacht.

Ja, ich verzichte zum Beispiel auf die ersten vier Kapitel, wo es um Wert, Ware und Geld geht. Das Thema Arbeitszeittheorie spielt zwar am Rande eine Rolle, aber ich habe mich da an Karl Korsch gehalten, der mal empfohlen hat, in die Lektüre direkt mit dem vierten Abschnitt einzusteigen: also der Mehrwertproduktion. Mein Anspruch ist nicht, ein wissenschaftliches Symposium zu veranstalten.

Allerdings wird die Lesart mit einer gewissen Autorität ausgestattet, wenn ein Akteur, der „ich“ sagt, sie vorträgt – also in der Rolle des Autors, als Gespenst oder Wiedergänger von Marx. Ist das ein Problem?

Ich finde nicht. Natürlich steckt hinter dem Text eine Lesart – nämlich eben die, wie ich das verstehe. Und es gibt selbstredend viele verschiedene. Ich habe aber auch versucht, in Ansätzen bestimmte Debatten, die es da gibt, abzubilden. Oder nein: abzubilden geht zu weit…

Zum 200. Marx-Geburtstag widmet sich die Schwankhalle ab Donnerstag der Wirkmacht des Marxismus aus künstlerischer Perspektive und mit künstlerischen Mitteln.

Den Auftakt macht die Eigenproduktion „Karl Marx…die Verhältnisse zum Tanzen zwingen“ von Michael Rettig: 31. 5. bis 3. 6., täglich 20.30 Uhr

Kulinarische Lecture-Performance: Bojan Djordjev, „The Discreet Charm of Marxism – a six course dinner piece“, in deutscher Sprache. Speisen und Getränke inklusive, 2. und 3. 6., 18 Uhr, Anmeldung erforderlich unter ticket@schwankhalle.de oder ☎0421 / 52 08 07 10

Kurzfilme: Phil Collins „marxism today (prologue)“ und „use! value! exchange!“, Deutsch mit englischen Untertiteln, am 5. 6., 18 und 21.30 Uhr

Vortrag: Ulrike Herrmann „Marx – das Kapital. Aktualität und Grenzen“, 5. 6. 19 Uhr

… eher anzuteasern, oder?

Ja. Es geht darum, deutlich zu machen, dass es nach wie vor ein umstrittenes Werk ist, und von diesem Streit leben muss. Aber in die Tiefen der Debatte kann ich mich nicht begeben. Ich habe versucht, das deutlich zu machen, was meiner Meinung nach vor allem für die heutige Zeit relevant ist. Das ganze wird ja zudem noch durch eine bestimmte Lesart von Ulrike Hermann ergänzt

Aber nur am 5. Juni, wenn sie auftritt?

Nein, das kommt in den Video­interviews zum Tragen, die wir mit ihr gemacht haben. Die sind Teil der Inszenierung.

Mitunter nutzen Sie den Text, um polemisch Stellung zu beziehen, etwa, wenn es heißt, dass „das neoliberale Credo aus Globalisierung, Deregulierung und wenn es sein muss ‚No Nation, No Border‘ die Proletarier wieder ungeschützt der Konkurrenz“ ausliefere. Manche Marx-Lesarten sehen gerade in den kosmopolitischen Tendenzen sein fruchtbarstes Erbe…

Ja, das habe ich mir lange überlegt, ob ich das noch einmal reinschreibe. Ich finde, es ist ein schwieriges Feld.

Deswegen macht es ja Spaß, darüber zu reden!

Ja. Ich denke, dass es schon Tendenzen gibt, Arbeitskräfte sich an Land zu ziehen, die man möglichst billig ausbeuten kann. Auf der anderen Seite können wir uns nicht nach 300 Jahren Ausbeutung des globalen Südens hinstellen und sagen: Guckt mal, wo ihr bleibt. Ich denke, wir müssen abgeben. Wir müssen unseren Lebensstandard senken. Nicht nur aus ökologischen Gründen.

Es wäre nicht das Kapital, das die Grenzen erbittert abschottet?

Sowohl als auch. Ich denke, da gibt es unterschiedliche Tendenzen, auch innerhalb der ökonomischen Eliten.

Aber warum machen Sie da jetzt nicht ein bisschen Zoff in Ihrem Stück?

Ich wollte das Stück nicht auf diese Frage zuspitzen. Mir geht es mehr um eine Aktualität von Marx, die über die Tagespolitik hinausgeht – um seine ökonomische Theorie. Und wahr ist: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen: Wir brauchen offene Grenzen. Ich glaube, da lügt man sich in die Tasche.

Die Sinnlichkeit des Textes weckt Bilder, die man kaum von einem ökonomischen Werk erwartet, etwa die Anklänge ans Gespenstische oder der Anspruch, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Wie setzen Sie das um?

Aus diesem Zitat hat sich die Grundidee entwickelt. Ich habe gesagt: Okay, dann wollen wir doch den Verhältnissen ihre Melodie vorsingen – den Text – und entwickeln daraus auch eine Folie für den Tanz. Im Rücken des Schauspielers wird deshalb der Tänzer Mirosław Żydowicz agieren, allerdings nicht unmittelbar sichtbar, sondern nur als Schattenriss. Damit soll angedeutet werden, dass wir von Mächten beherrscht werden, die wir zwar selbst geschaffen, über die wir aber die Kontrolle verloren haben: Die abstrakte Macht im Rücken der Akteure.

Das Kapital – eine ungreifbare Dynamik?

Deswegen sieht man den Tänzer nicht als Figur. Man ahnt, dass es ein Körper ist, aber nimmt ihn nur abstrakt wahr: Er ist so vergrößert, dass nur ein Ausschnitt zu erkennen ist.

Und die Melodie des Textes ist die einzige Musik?

Nein es gibt einen digitalen Sound: Cello oder Klavier hätte ich, obwohl ja selber Pianist, unpassend gefunden. Stattdessen hat Riccardo Castagnola mit Spezialmikros die Prozesse in beispielsweise einem Handy in Sounds umgewandelt, die er miteinander kombiniert.

Klänge aus einer Welt, in der die Prozesse ganz in die Maschine verlagert sind?

So kann man das deuten: Die Idee, dass der Kapitalismus die Technik so weit vorantreibt, dass wir am Ende vor einer Welt ohne Arbeit stehen, kommt im Stück vor. Was dann der Wert der ganzen Arbeitswerttheorie sein soll, was dann von ihr übrig bleibt – das klären wir ein andermal.

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