Buch über die „Lebensschutz“-Bewegung: Marsch durch die Institutionen

Sie nutzen Lücken in der Gesetzgebung und versuchen, ihr eigenes Rechtsverständnis zu etablieren. Ein neue Studie widmet sich den „Lebensschützern“.

Menschen vor dem Reichstag, einer hält ein weißes Kreuz

Jedes Jahr laufen Abtreibungsgegner*innen auf dem „Marsch für das Leben“ durch Berlin (Bild, 2017) Foto: dpa

Die Debatte über Abtreibungen in Deutschland ist wieder da. Ausgelöst wurde sie durch die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel, die auf ihrer Website darüber informiert hatte, dass sie Abtreibungen durchführt. Mit ihrem Einspruch gegen das Urteil kochte eine längst eingeschlafene Auseinandersetzung über das Selbstbestimmungsrecht der Frauen* wieder hoch.

In „Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der ,Lebensschutz'-Bewegung“ beschreiben Kirsten Achtelik, Ulli Jentsch und Eike Sanders wie christliche Fundamentalist_innen zunehmend in der Öffentlichkeit ihre reaktionäre Ideologie verbreiten. Sie bezeichnen sich als „Lebensschützer“, vertreten autoritäre Positionen und lehnen nicht nur Abtreibungen ab, sondern richten ihre teils antidemokratische Kulturkritik auch gegen die 1968er, gesellschaftlichen Fortschritt und Feminismus. Die An­hän­ger_innen dieser Bewegung seien durch das gemeinsame christliche Bekenntnis verbunden, schreiben die Autor_innen. Um sich der säkularisierten Debatte anzupassen, entwickelten sie aber auch naturwissenschaftliche, medizin­ethische und juristische Strategien. Den Aufschwung der Rechten nutzten sie, um sich auf einen Marsch durch die Institutionen zu begeben.

Gesteigerte Aufmerksamkeit erzielen die „Lebensschützer“ durch die „Märsche für das Leben“, die sie alljährlich in verschiedenen Städten Deutschlands gegen das Recht auf Abtreibung organisieren. Die Autor_innen berichten, dass die „Lebensschützer“ vermehrt gegen Beratungsstellen für Schwangere und Ärzt_innen vorgehen, die Abtreibungen vornehmen. Sie überziehen diese mit juristischen Klagen und halten Kundgebungen vor deren Einrichtungen ab, deklariert als „Mahnwachen“.

Schwangere Frauen auf dem Weg zu den Beratungsstellen belästigen sie mit ihren re­ak­tio­nären Vorstellungen und Gebeten, die sie als „Gehsteigberatung“ beschönigen. Wie die Autor_innen erklären, geht es den „Lebensschützern“ darum, Schwangere und Ärz­t_in­nen, die Abtreibungen vornehmen, als Mörder_innen zu stigmatisieren. Um das Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen einzuschränken, ziele die Bewegung aber auch auf Ärzt_innen als potenzielle Verbündete ab. Sie appelliere an deren Gewissen, sich der Beteiligung an Abtreibungen zu verweigern, und benutze das Recht der Religionsfreiheit, um ihre Argumentation zu untermauern.

Anhand von Lücken und Widersprüchen in der Gesetzgebung versuchen die „Lebensschützer“, ihr eigenes Rechtsverständnis zu etablieren, wo ihrer Meinung nach eine Liberalisierung drohe. Sie versuchen gezielt, Bereiche zu beeinflussen, in denen die gesellschaftliche Klärung bioethischer Fragen nicht mit dem medizinischen Fortschritt mithalten kann. Techniken wie Präimplantations- und Pränataldiagnostik, mit denen Erbkrankheiten und Behinderungen vor der Geburt festgestellt werden sollen, aber auch die Sterbehilfe rücken sie in die Nähe der nationalsozialistischen Euthanasie.

Kirsten Achtelik, Ulli Jentsch, Eike Sanders: „Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der ‚Lebensschutz‘-Bewegung“. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 160 S., 15 Euro.

Gleichzeitig versuchen sie an Forderungen der Behindertenbewegung und feministischer Organisationen anzuknüpfen, unterscheiden sich aber grundlegend von deren Zielen: Während diese sich für eine Gesellschaft einsetzen, in der behinderte Menschen gleichberechtigt leben können, geht es den „Lebensschützern“ nur darum, das Recht auf Abtreibung abzuschaffen.

Die Autor_innen zeigen, wie wenig Sicherheit die derzeitige Gesetzgebung dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen* bietet, und fordern, den Diskurs über Abtreibungen, Reproduktionsmedizin und Sterbehilfe mit emanzipatorischen Inhalten zu füllen.

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