Georg Kleins Roman in Leipzig nominiert: In den Nährhöhlen

Dicht, oft märchenhaft, beschreibt Georg Klein in seinem Roman „Miakro“ das Büro der Zukunft als dystopische Überhöhung der üblichen Start-up-Ausbeutung.

Ein Mann mit Glatze steht vor dem glatten Stamm eines Baumes, im Hintergrund rötliches Laub

Lässt Menschen mit weichem Glas spielen: Schriftsteller Georg Klein Foto: dpa

Stück für Stück, Zeile für Zeile versucht man sich zurechtzufinden in dieser sonderbaren Welt, in die Georg Klein den Leser hier hineinwirft wie in kaltes Wasser. Wobei „sonderbar“ untertrieben ist, denn im Mittleren Büro, in dem sich das Geschehen zunächst abspielt, sind die Begebenheiten verstörend: Das Leben der Büroler, wie sie sich nennen, besteht daraus, vor ihren Tischen zu sitzen und mit den Fingern über weiches Glas zu gleiten, in das sie hineinsehen wie in eine Kristallkugel und das ihnen einen unablässigen Bilderstrom garantiert. Dies ist ihre Berufung, ihr Bestreben, ihr Kontakt zur Außenwelt.

Aber noch einiges mehr ist gewöhnungsbedürftig. Die Essenszufuhr findet in Nährfluren und Nährhöhlen statt, das Essen schält sich aus den Wänden, die Lieblingsspeisen der Büroler sind Dicksprossen und Süßkartoffeln. Sie tragen Overalls, haben Schockstöcke bei sich, und wenn sie nicht bei der Glasarbeit sind, dann ziehen sie sich in Schlafnischen mit Netzen darüber zurück.

Eine funktionierende „Binnenwelt“ (man zählt hier in Binnenjahren, es gibt auch Binnensommer und Binnenwinter) ist dieses Mittlere Büro – die aber bedroht scheint, wenn man Büroleiter Nettler richtig versteht: „Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen. Und die von rechts nach links flottierende Buntheit, der wärmeraubende Luftstrom auf seinem Gesicht und das lauernde Grau des Kommenden schwangen in ihm zu einem unsinnig lustigen Dreiklang zusammen.“

„Miakro“ heißt der neue Roman des Schriftstellers Georg Klein, in dem er, in einer beeindruckend dichten, oft märchenhaften Sprache, eine Dystopie skizziert. In dieser Zukunft sind die Lebewesen – sie haben noch etwas Menschliches, aber nicht mehr viel – völlig ihrer Funktion und ihrem Funktionieren unterworfen. Es ist eine maximal regulierte Welt im Mittleren Büro, alles hat seinen Ort und seine Bestimmung, aber warum diese Spezies ins Glas schaut und was sie dort sieht, was überhaupt ihr Dasein ausmacht – all das bleibt im Ungefähren.

An der Handlung glitscht man immer wieder ab

Es ist genau dieses Ungefähre, auch das stetig Unbehagliche, das man beim Lesen spürt, das einen Schriftsteller wie Georg Klein auszeichnet. Gerade weil „Miakro“ ein so sperriger, unnahbarer, kühler Klotz ist, ist es erfreulich, dass er mit diesem Buch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. 2010 hat er diesen für seinen autobiografisch angelegten „Roman unserer Kindheit“ schon einmal gewonnen.

Klein, der in Augsburg geboren ist, eine Zeitlang in Berlin lebte und heute im ostfriesischen Dollart ansässig ist, spielt seine erzählerischen Stärken aus: Er wechselt die Erzählperspektiven, schlüpft als personaler Erzähler in die verschiedenen Figuren und übernimmt auch gleich deren Sound. Und er macht es dem Leser alles andere als einfach, ihm zu folgen, wenn er in den einzelnen Kapiteln immer wieder Rückgriffe vornimmt. Man versucht, die Handlung zu packen zu bekommen – und glitscht doch immer wieder ab.

Es ist eine maximal regulierte Welt im Mittleren Büro, alles hat seinen Ort und seine Bestimmung

Dies ist auch dann noch so, als Klein den Leser in die anderen Sphären seiner Romanwelt führt. Denn neben dem Mittleren Büro gibt es noch das Höhere Büro, das Hauptquartier und die aus Bürosicht exotisch erscheinende wilde Welt. In dieser begegnet man Volkskerlen und Volksweibern, man wird durch abgesteckte Bezirke, die hier Rayone heißen, geführt. Eine ebenfalls im Ungefähren bleibende Hundertschaft stromert durch diese Rayone und führt Krieg; die Bewohner der Rayone verfügen zum Teil noch über Wissen des alten Zeitalters. Es gibt sogar noch Bücher und Vorleser, es ist „von den drohenden Widrigkeiten und möglichen Glücksfällen des Vorlesens die Rede“, während die Aggressoren nur die „Fünfhundert-wichtige-Wörter-Prüfung“ abgelegt haben.

Wer, wie ich, Georg Klein bislang immer irgendwie mit Gelehrtenprosa in Verbindung gebracht hat, der wird sich nach der Lektüre von „Miakro“ korrigieren. Denn der Roman ist Science-Fiction, ist eine postmoderne Fabel, ist etwas mehr David Lynch als Franz Kafka.

Vor den Rätseln der Gegenwart stehen

Naheliegend ist eine Lesart, nach der das Mittlere und Höhere Büro in „Miakro“ die Zukunft einer vollverwalteten Digitalgesellschaft repräsentieren, in der nur noch Restbestände von Emotionen und Geschlechtlichkeit (Merksatz sechs, den die Büroler bereits im Klassenzimmer lernen, lautet: „Das Geschlecht hat sich im Griff!“), von Kultur und Kommunikation vorkommen. Und nach der in der wilden Welt die noch nicht vollends entfremdeten Wesen leben. Aber „Miakro“ – der Titel fasst „Mikro“ und „Makro“ zugleich – lässt auch andere Lesarten zu. Wir wissen nur, die Gesellschaft, die hier gezeichnet wird, ist hochgradig hierarchisch, strikt segregiert, durch und durch funktional.

Und allzu sicher in seinen Deutungen sollte man sich bei Georg Klein ohnehin nicht sein, denn genauso wichtig wie das, was gesagt und geschrieben wird, ist bei ihm das, was ungesagt bleibt. Klar scheint nur, dass die Rätsel, vor die einen „Miakro“ stellt, sehr viel gemein haben mit den Rätseln, vor die einen die Gegenwart stellt.

Georg Klein: „Miakro“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, 336 Seiten, 24 Euro

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