Studierendenproteste in Nanterre: Fast wie 1968 und doch anders

Der Unibetrieb in Nanterre ist seit Wochen lahmgelegt. Der Unmut der Studierenden richtet sich gegen die soziale Auslese.

StudentInnen sitzen vor einer Universität auf dem Rasen

Sitzen aus Protest: Eine Generalversammlung an der Universität in Nanterre im April 2018 Foto: dpa

NANTERRE taz | Es ist unruhig in diesem Frühjahr 2018 an den französischen Universitäten – unruhig wie vielleicht noch nie seit 1968. Vollversammlung im großen Auditorium der Universität Nanterre: Mehr als 1.500 Studierende, zahlreiche Dozierende und Verwaltungsangestellte diskutieren lebhaft. Soll die Campus-Besetzung mit Blockade fortgesetzt werden oder nicht? Was geschieht mit den Semesterprüfungen?

Eine klare Mehrheit hat sich zum dritten Mal für die Fortsetzung der Aktion ausgesprochen. Sie kämpfen gegen eine Reform, die eine verschärfte Selektion beim Zugang zur Hochschule schafft. Das neue Auswahlsystem ist verabschiedet und seit März 2018 in Kraft. Damit galt die Sache als geregelt. Doch es kam anders und – wie schon die Jugendrevolte im Mai 68 – für alle unerwartet.

„Seit November haben wir Flugblätter gegen diese Reform verteilt“, sagt Barthelémy Piron, Geschichtsstudent und Mitglied der Studierendengewerk­schaft Unef. Aber es hätte kaum Reaktionen gegeben, auch nicht, als immer mehr Universitäten wie die in Montpellier, Toulouse und weitere Fakultäten in Paris besetzt wurden.

Aber dann sei auch in Nanterre plötzlich Bewegung in die Situation gekommen. „Das verdanken wir unserem Hochschulpräsidenten Balaudé“, sagt Piron. „Er hat die Polizei auf den Campus geholt, um eine Versammlung zu verhindern. Der brutale Einsatz der CRS [Ordnungspolizei] und die Festnahme von sieben Studierenden hat viele erst mobilisiert.“ Für die meisten ist diese Form des Ungehorsam völlig neu.

Seit Anfang April tritt Barthelémy mit seinen zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren in den Medien als Wortführer der Bewegung auf. Ihr Protest richtet sich gegen den Selektionsmechanismus der ORE (Orientation et Réussite des Étudiants) genannten Reform, die von der Regierung Macron durchgesetzt wurde. Da es in bestimmten Studienfächern, und vor allem an den besseren Fakultäten des Landes, zu wenige Studienplätze gibt, sollen nun die Universitäten auf Basis der Schulleistungen wie auch aufgrund eines Motivationsschreibens BewerberInnen auswählen.

„Weniger Polizei, mehr Klitoris“

Das öffnet, sagen die GegnerInnen, der Willkür und einer sozial diskriminierenden Selektion Tür und Tor. Denn Mittelschulabschlüsse aus sozial schwächeren Vorstadtsiedlungen oder ländlichen Regionen werden nicht so attraktiv sein wie das Baccalauréat (das französische Abi­tur) und Empfehlungsschreiben eines Elite-Gymnasiums wie des Pariser Lycée Henri IV beispielsweise.

Aus französischer Sicht hat alles, was unter Mai 68 in die Geschichte einging, in Nanterre begonnen

Als Emmanuel Macron von „professionellen Unruhestiftern“ sprach, hat Barthelémy lachen müssen. Aber auch er staunt, wie schnell sich diese Generation von Studierenden politisiert, die aus der Sicht vieler als desinteressiert oder desillusioniert galt. Doch nun sind sichtbar die Uni-Gebäude blockiert – durch Barrieren, Müllcontainer und andere Dinge, die vor sämtliche Eingangstüren geschoben worden sind, Tische und Stühle versperren die Zugänge und legen den Lehrbetrieb lahm.

Manchmal nimmt der Protest fröhlichen Happening-Charakter wie vor fünfzig Jahren an. Auf den Mauern der Gebäude stehen Sprüche wie „Moins de police, plus de clitoris“ („Weniger Polizei, mehr Klitoris“). Auf der Esplanade beim Eingang zum Hochschulgelände sitzen ein Dutzend Theater-Studentinnen und -Studenten im Kreis, die ironisch klingende Sätze deklamieren: „Mama hat gesagt, komm nicht zu spät nach Hause“ – „Mama hat gesagt, trink nicht mit Punks, die Hunde haben“.

Manon* filmt sie mit der Videokamera, sie proben für ein Theaterstück in bester Agitprop-Tradition. „Zum Schutz vor Repressalien bleiben die Bilder der Aktionen, Debatten und Versammlungen sechs Jahre unter Verschluss“, erklärt sie. Die Bewegung schafft sich ihr eigenes Archiv, damit sich die GeschichtsforscherInnen auch in vielleicht 50 Jahren mit den Ereignissen im April 2018 beschäftigen können.

„Der soziale Unmut ist der gleiche wie damals“

Die Studierenden, die heute in Nanterre protestieren, sind gewohnt, auf einen Vergleich der Bewegungen von Mai 68 und heute angesprochen zu werden. „Wir befinden uns in einer Situation, die im Kern dem Frühling 1968 gleicht“, sagt Clément Domart, Urbanistik-Student. „Zum Beispiel haben wir einen Staatspräsidenten, der alle Machtbefugnisse nutzt, die ihm die Fünfte Republik gewährt. Das ist eine Art präsidiale Monarchie für jeweils fünf Jahre, die Amtsbezeichnung ändert daran nichts.“

Domart gesteht, er habe bei der Errichtung der Barrikade vor dem Zugang zum Jura-Gebäude mitgemacht. „Der soziale Unmut ist der gleiche wie damals“, sagt er, „auch wenn sich die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe unterscheiden mögen.“ Den Mai 68 möchte er als „kollektives kulturelles Erbe der Uni Nanterre“ verstanden wissen. Die offiziellen Veranstaltungen dazu findet er jedoch „absurd“.

Aus französischer Sicht hat alles, was später unter dem Namen Mai 68 in die Geschichte einging, in Nanterre begonnen. Im Präventivmedizinischen Dienst der Universität wird darum ein Originalpflasterstein des Mai 68 aus den Straßenkämpfen im Quartier Latin aufbewahrt und seit Jahrzehnten wie eine politische Reliquie von Generation zu Generation intern weitergegeben.

Der Granitquader, ursprünglich aus der Bretagne, ist neben einigen in der École des Beaux Arts ausgestellten Plakaten eines der wenigen materiellen Überbleibsel dieser Jugendrevolte, für die eine an sich harmlose Protestaktion in der damals noch neuen Uni im Westen von Paris am 22. März 1968 zum Fanal wurde. Damals durften die Studenten ihre Kommilitoninnen nicht im Wohnheim besuchen. Sie besetzten kurzerhand das Studentinnenheim – mit Unterstützung der Bewohnerinnen –, worauf der Rektor die Polizei holte. Diese Repression löste eine Bewegung aus, die sich von der Sorbonne auf alle Universitäten ausbreitete.

Natürlich ist die Situation von heute kaum mit der von 1968 zu vergleichen, sagt die Philosophiedozentin Judith Revel. Wie die meisten KollegInnen ihrer Fakultät ist sie mit der Bewegung gegen die Reform solidarisch. „Damals gab es viel weniger Studierende als heute, es war eine Gesellschaft der Vollbeschäftigung. Heute sind wir nach zehn Jahren immer noch nicht aus der Wirtschaftskrise heraus, die Armut und Arbeitslosigkeit betrifft besonders das Leben der jungen Menschen. Denn die Studierenden müssen zum Großteil unter prekären Bedingungen arbeiten.“ Revel sieht es als positives Zeichen, dass die Studierenden trotz der großen Unterschiede zu 1968 aufbegehren, „eine andere Gesellschaft, nach anderen Prinzipien schaffen wollen. Das ist eine Ablehnung des Fatalismus.“

Imagewerbung mit historischem Erbe

Wer für oder gegen die Reform ist, das unterscheidet sich von Fakultät zu Fakultät, von Uni zu Uni. Der Jura-Student Jean-Baptiste Roche ist wie viele seiner KommilitonInnen eher für die Reform – und vor allem gegen die Blockade, die den Lehrbetrieb lahmlegt. „Aktionismus, der unsere Abschlüsse gefährdet.“ Die historische Bewegung des Mai 68 habe daraus eine Art „heiligen Boden für die radikale Linke“ bereitet. „Das erlaubt es, dieser Minderheit von AktivistInnen, die im derzeitigen Konflikt die Führung übernommen haben, sich in der Öffentlichkeit in den Vordergrund zu spielen und Unterstützung von außen zu erhalten.“

Vom aktuellen Slogan „Konvergenz der Kämpfe“, das heißt, einer Verbindung des Widerstands an den Unis und der gewerkschaftlichen Konflikte in den Betrieben nach dem Vorbild des Generalstreiks von 1968, hält der angehende Jurist gar nichts.

50 Jahre Mai 68 – daran kommt auch die aktuelle Universitätsleitung nicht vorbei. Sie hat versucht, mit dem historischen Erbe Imagewerbung zu betreiben. Die Tafel mit dem offiziellen Programm beim Hochschuleingang ist seit Wochen übersprüht mit „Commémorations d’hypocritiques“ („Feier der Heuchler“).

Dieser Ansicht ist auch Florence Johsua, Politologin in Nanterre und eine Expertin für die revolutionäre Linke: „Die Universität gibt vor, Sympathien für den Mai 68 zu haben, säubert diese aber dazu von jedem politischen und subversiven Inhalt“, sagt sie. „In den Pressemitteilungen der Direktion werden die Ereignisse vom Mai 68 so glatt wie Hochglanzpapier in der Werbung. Manchmal kommen Gedenkfeiern einer Beerdigung gleich, indem die Interpretation der Geschichte zu einer Farce oder einem Slogan verkürzt wird.“

Eine für den 22. März geplante Veranstaltung der Universität zum Jahrestag der allerersten 68er-Proteste in Nanterre wurde deshalb von Studierenden regelrecht gesprengt, indem sie den Schriftzug „68“ theatralisch zu Grabe trugen – in einem Pappmaschee-Sarg.

Neue kollektive und kreative Aktionsformen

Hochschulrektor Jean-François Balaudé, ein Spezialist für antike Philosophie, hatte sich in seiner Einladung zum historischen Rückblick ahnungslos und im Namen „der Geschichte, die zur Identität unserer Universität gehört“, auf die „Kühnheit“ der Jugend und den „Mythos der Emanzipation und Transformation“ berufen.

1968 war ein bewegendes Jahr. Eines mit lang anhaltenden Folgen für alles, was sich in den kommenden Jahrzehnten als linksalternativ verstand – und letztlich für die gesamte Gesellschaft. Aber wie und wann hat das alles begonnen?

Kalenderblatt

Um unseren LeserInnen ein Gefühl dafür zu geben, startet die taz das „Kalenderblatt zum Sommer 1968“. In den kommenden Monaten werden wir in der gedruckten taz sowie auf Twitter und Facebook immer wieder auf ein vor 50 Jahren aktuelles Ereignis hinwiesen.

Karte mit Schauplätzen

Auf taz.de/1968 gehen wir auf Zeit- und Weltreise – mit einer Karte der Schauplätze des Protests und einem Wissens-Quiz, das gut geschulten Linken leichtfallen sollte.

Noch bevor sein Jubiläumsprogramm von Kolloquien und Ausstellungen richtig anlief, haben Studierende ihm die Aktualität des Rechts auf Ungehorsam in Erinnerung gerufen. Aus Protest gegen die als sozial ungerecht empfundene Reform haben sie Anfang April die Zugänge blockiert und die Uni-Gebäude besetzt. Sie solidarisieren sich darüber hinaus mit den streikenden GewerkschafterInnen bei der Bahn, der Post und anderen öffentlichen Diensten.

Vor allem aber fordern sie die Autorität der Behörden und der Uni-Hierarchie heraus, sie suchen neue kollektive und kreative Aktionsformen und verlangen nach dem provozierenden Polizeieinsatz den Rücktritt des Rektors – genau wie vor fünfzig Jahren in Nanterre ihre VorgängerInnen und einer ihrer Wortführer, Daniel Cohn-Bendit. Der sitzt heute im Verwaltungsrat der Uni Nanterre und berät wie andere Ex-68er den Staatspräsidenten Macron. Die Slogans von heute müssen in seinen Ohren wie ein verzerrtes Echo aus seiner eigenen Jugend tönen.

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