Merz-Gillamoos-Debatte: Kreuzberg tut auch Bayern gut

Kreuzberg ist nicht Deutschland? Friedrich Merz weiß offenbar nicht, wovon er spricht. Es gibt vieles, was Deutschland von Kreuzberg gelernt hat.

Ein Bayer in Trachten steht Schlange an einem Stand auf der Grünen Woche namens "Curry36"

Ein Bayer steht Schlange für eine Kreuzberger Currywurst von „Curry36“ (hier auf der Grünen Woche) Foto: Imago/Eberhard Thonfeld

„Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“ Ein Satz als Selbstvergewisserung und Feindbestimmung, von engstirniger und ausgrenzender Piefigkeit, ausgesprochen von CDU-Chef Friedrich Merz, macht seit Montag die ganz große Runde.

Es ist ein Satz, gedacht für jene, die Angst haben vor Berlin. Vor dem prallen Leben, mit all seinen Widersprüchen und seiner Veränderung. Solcherlei Ängste artikulieren sich oft in der Verächtlichmachung. Berlin wird zur Negativfolie für das eigene dröge Leben: die Pleitestadt der Faulenzer und Drückeberger, in der nichts funktioniert. So fantasielos oder falsch die Klischees auch sind: Berlin-Bashing ist Volkssport.

Wenn sich dieser Blick auf die Stadt dann noch mit rassistischen Ressentiments vor zu vielen Ausländern vermischt und mit einem Abgrenzungsbedürfnis gegen alles Linke und Grüne einhergeht, schrumpft Berlin auf die Hälfte seines kleinsten Bezirks zusammen: Kreuzberg. Ein Ortsteil als Chiffre für alles, was man ablehnt: die Diversität der Herkünfte und Lebensformen, die hier zu findende Bereitschaft, Auto und Wurst als Kulturgüter zu hinterfragen, der unangepasste Widerstandsgeist. Dann doch lieber der enge Horizont vom Gillamoos.

Das bayerische Volksfest ist ganz sicher Deutschland: Hier saufen und grölen die Massen schon am Montagvormittag (muss denn in Bayern niemand arbeiten?), es kommt zu sexuellen Übergriffen, Schlägereien und Hitlergrüßen. Hier lässt sich der Hubsi feiern, weil er den Vorwurf des Antisemitismus zum Anlass nimmt für einen Gegenschlag. Das alles ist Deutschland. Kein Ort für Linke/Grüne, die man sich früher noch nach „drüben“ wünschte – und heute wohl nach Kreuzberg –, und keiner für Ausländer, die man sich schon immer ins Ausland wünschte.

Was aber soll Kreuzberg sein, wenn nicht auch Deutschland? Friedrich Merz und seinesgleichen haben darauf keine Antwort, denn ihnen geht es nur um die Überhöhung ihrer selbst. Dabei kann ein neugieriger Blick helfen: Kreuzberg ist ein Ort, von dem der Rest in Deutschland lernen kann, wie’s besser läuft.

Solidarisch statt egoistisch

Vom katholischen Bayern aus schaut man wieder einmal auf das „gottlose“ Berlin, diesen babylonischen Sündenpfuhl ohne jede Moral. Nur: Den wahren christlichen Glauben haben nicht Söder oder Merz gepachtet. Stattdessen kann man auch hier von Kreuzberg lernen. Vor genau 40 Jahren wurde hier eine besondere Form der praktischen Nächstenliebe erfunden: das Kirchenasyl. Die Heilig-Kreuz-Kirche an der Zossener Straße gab einer von Abschiebung bedrohten Gruppe palästinensischer Geflüchteter aus dem Libanon und Jordanien das erste Asyl in ihren Räumen – eine bundesweite, erfolgreiche Bewegung folgte, die es bis heute gibt.

Auch andere Formen der Solidarität strahlen von Kreuzberg aus in den Rest der Republik. Tausend Menschen, von der Oma im Nachbarhaus bis zum Autonomen, versuchten 2013 die Zwangsräumung des Malermeisters Ali Gülbol und seiner Familie aus der Lausitzer Straße zu verhindern. Die Familie hatte sich – erfolglos – gegen eine Mieterhöhung gewehrt, nachdem der neue Hausbesitzer sich über zuvor getroffene Vereinbarungen hinweggesetzt hatte. Für die Nachbarschaft kein Individualproblem, sondern Anlass, als Gemeinschaft zusammenzustehen. Ausdruck dieser Haltung ist das Kreuzberger Bündnis Zwangsräumungen verhindern. Für andere einstehen – das ist das, was Kreuzberg zusammenhält. Und mehr Zusammenhalt hätte auch Deutschland nötig.

Bunt statt grau

Wenn der Gillamoos-Besucher über Integration redet, denkt er wahrscheinlich an Folgendes: Mi­gran­t:in­nen sind dann besonders gut integriert, wenn sie perfekt Deutsch sprechen, im lokalen Fußballverein spielen und eine Maß Bier in unter 10 Sekunden exen können. Alles andere ist gefährliche Parallelgesellschaft.

Den schablonenhaften Integrationsdebatten, die alle Jahre wieder in deutschen Talkshows geführt werden, war Kreuzberg schon immer weit voraus. Wenn Kids aus Familien, bei denen zu Hause Arabisch, Türkisch, Deutsch und Serbisch gesprochen wird, sich untereinander selbstverständlich in bestem Kreuzberger Kiezdeutsch unterhalten, wenn sie zusammen um die Häuser ziehen, ist das kein Beispiel gescheiterter Integration, sondern postmigrantische Realität. Die Frage nach Identität ist in Kreuzberg für viele keine einfache – aber eben auch keine bedrohliche.

Ihre rechtmäßige Teilhabe mussten sich viele migrantische Communities hart erarbeiten und erkämpfen – wie die Ak­ti­vis­t:in­nen der Antifa Gençlik, die sich Anfang der 90er militant gegen rassistische Gewalt gewehrt haben und die Nazis aus ihren Kiezen vertreiben konnten.

Nazifreie Kieze: Davon profitieren alle, die irgendwie anders sind. Auch all die zugewanderten (vor den engen Verhältnissen geflohenen) queeren Menschen aus der bayrischen Provinz. Kein Wunder, dass sich die queere Szene in Kreuzberg (klar, aber auch in Schöneberg und anderswo im ach so großen Berlin) angesiedelt hat. Lange vor dem Berghain waren die „Kreuzberger Nächte lang“ (es gibt da seit 1978 diesen unsäg­lichen Gassenhauer). Die queere Infrastruktur war und ist groß, innovativ, vielfältig und bunt.

Nur mal ein Beispiel: Im Club SO36 in der Oranienstraße gibt es seit 1997 Gayhane, eine queere Partyreihe, die sich an Menschen mit muslimischen Wurzeln und ihre Freunde richtet – das war seinerzeit weltweit einzigartig. Da müsste Friedrich Merz mal hingehen (man ist hier eh heterofreundlich). Auf dem queeren Oriental Dance­floor wird türkischer, arabischer und auch griechischer oder hebräischer Pop gespielt. Das ist, auch wenn’s pathetisch klingt, gelebte Vielfalt. Eben bunt statt blau oder grau. Ganz Kreuzberg ist ein Safe Place. Kreuzberg ist Deutschland.

Das ließe sich vor Ort am besten erleben.

Bottom-up statt Top-down

Bröckelnde Fassaden, eingestürzte Dächer, Schwamm in den Balken. Als die Mauer fiel, waren die meisten Innenstädte in Ostdeutschland in einem erbärmlichen Zustand. Vielerorts wie in der Görlitzer Nikolaivorstadt oder im Holländischen Viertel in Potsdam kam mit der politischen Wende auch eine städtebauliche. Kein Abriss, sondern Erhalt und Sanierung hatten zuvor schon Bürgerinitiativen wie Argus in Potsdam gefordert. Aber wie geht das?

Viele Delegationen sind damals nach Berlin gefahren, um sich umzusehen, welche Erfahrungen es mit der behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg gegeben hatte. Auch dort stand in den 1970er Jahren die Forderung im Raum: Sanierung statt Abriss. Im Gesundbrunnen im Wedding hat der Senat vorgemacht, was er unter Sanierung versteht – Kahlschlag. Auch am Kottbusser Tor, heute für viele Provinzpolitiker wie Markus Söder oder Friedrich Merz der Inbegriff alles Bösen aus Kreuzberg, war bereits mit dem Abriss begonnen worden. Doch es gab Widerstand. Der Abriss wurde gestoppt. Bald schon wurde mit der Sanierung der maroden Häuser begonnen.

Die Revolution in der deutschen Stadtentwicklungspolitik hat in Kreuzberg ihren Anfang genommen. Die Innenstädte waren nicht mehr nur autogerechte Geschäftsbezirke, sondern attraktive Wohnorte. Dass das möglich ist, hatte die Internationale Bauausstellung 1987 mit vielen Beispielen gezeigt. Die ganze Bundesrepublik richtete damals ihre Augen auf Kreuzberg.

Die IBA hat aber auch gezeigt, dass behutsames Sanieren nicht ohne die Beteiligung der Menschen geht. Kein arrogantes Top-down war nun angesagt, sondern Bürgerbeteiligung. Auch die wurde in Kreuzberg erfunden. Kreuzberg ist nicht Deutschland? Wenn das wahr wäre, würden viele Gründerzeitviertel in Hamburg, München, Görlitz oder Köln heute gesprengt sein.

Maul auf statt Mund halten

Als Westberlin als Europas Kulturhauptstadt 1988 die Ausstellung „Mythos Berlin“ am Anhalter Bahnhof in Kreuzberg eröffnete, war auch die autonome Szene mit von der Partie. Mehrere hundert Menschen erzwangen sich den Zutritt zum Ausstellungsgelände und plünderten kurzerhand das Buffet. Es war ihre Antwort auf die Abriegelung Kreuzbergs zur 750-Jahr-Feier im Jahr davor. An diesem Tag im Juni 1987 war Kreuzberg tatsächlich nicht Deutschland gewesen, es war nicht einmal mehr Teil von Westberlin.

Von „Anti-Berlinern“ hatte Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) damals gesprochen, übrigens nicht in einem Bierzelt. Gemeint war der Riot vom 1. Mai 1987, der der Abriegelung vorangegangen war. Dem Kreuzberger Wunsch, sich selbst als irgendwie außen vor zu definieren, passte das politisch verordnete Othering durch den obersten Westberliner. Demgegenüber ist der Merz-Spruch geradezu weichgespült.

Vielleicht könnte eine Ausstellung mit dem Titel Mythos Kreuzberg heute einmal Auskunft geben über die magische Anziehungskraft dieses rebellischen Quartiers für Westberlin während der deutschen Teilung. Während Zehntausende dem Geld hinterherzogen und nach Westdeutschland abwanderten, zog es die Unangepassten in die entgegengesetzte Richtung. Kreuzberg war Versprechen und Verheißung zugleich, es übte aber auch, auch das gehört zur Wahrheit, einen Sog aus, der manch einen orientierungslos zurückließ oder gar untergehen ließ.

Rückblickend würde man heute vielleicht sagen: Der Mythos Kreuzberg war der Beginn des Berliner Stadtmarketings. Anders als der Mythos Prenzlauer Berg, der bald das deutsche (und britische und spanische) Bionade-Biedermeier anzog, lebt der Mythos des gallischen Dorfes zwischen Mehringhof und Schlesischem Tor allerdings bis heute fort und kippte auch, trotz Kotti und Görli, nie in eine nur negative Richtung wie etwa in Neukölln.

Diepgens Nachfolger im Roten Rathaus hat das begriffen. „Ein bisschen Kreuzberg für alle wäre auch gut“, ließ sich Kai Wegner am Dienstag zitieren. Der Spandauer hat also schon etwas gelernt von Kreuzberg.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.