Experiment in Dänemark: Zwangsumsiedlung mit „Ghettoplan“

Mit Zwangsumsiedlungen will Dänemark Brennpunkte auflösen: Gebäude werden abgerissen, nicht nur migrantische BewohnerInnen vertrieben.

Menschen stehen beieinander, ein frau, die ein Kopftuch trägt ruft etwas

BewohnerInnnen von Mjølnerparken protestieren gegen die Umsiedlungspläne Foto: Philip Davali/ap/picture alliance

STOCKHOLM taz | Zum Auszug gezwungen habe man ihn und seine Frau, er habe sich regelrecht erpresst gefühlt, erzählte Arif Mohammed in einer Reportage der dänischen Tageszeitung Politiken. Eines Tages seien Leute vom Wohnungsunternehmen gekommen: Das Haus sei verkauft worden, es werde nun renoviert, sie müssten die Wohnung räumen.

„Ich bin seit 32 Jahren in Dänemark und habe immer gearbeitet“, berichtete der in Pakistan geborene 55-jährige Taxifahrer. „Ich lebe nicht auf Kosten des Staates und habe das nie getan. Darauf bin ich sehr stolz.“ Sei denn der „Ghettoplan“ nicht wegen der Kriminellen beschlossen worden? Und was hätten er und seine Frau mit denen zu tun? „Ich wurde dafür bestraft, dass ich am selben Ort wie die lebe: eine grenzenlose Ungerechtigkeit.“

2018 hatte die konservative dänische Regierung von Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen einen „Ghettoplan“ beschlossen. Eine Spezialgesetzgebung für Wohngebiete mit einem Bevölkerungsanteil von mehr als 50 Prozent „nicht-westlicher Einwanderer und ihrer Nachkommen“. Hintergrund war die wachsende Kriminalität im Kopenhagener Wohnviertel Mjølnerparken. Dieses wählte der Regierungschef auch deshalb demonstrativ, um vor einem großen Presseaufgebot die neue Integrationsgesetzgebung als „unsere letzte Chance“ zu präsentieren.

Das von einer breiten Parlamentsmehrheit von den Sozialisten bis zu den Rechtspopulisten unterstützte Gesetz macht Zwangsumsiedlungen möglich, wenn Wohnviertel zwei von vier Kriterien erfüllen: Mehr als 40 Prozent Arbeitslose, über 60 Prozent der über 30-Jährigen haben nur Grundschulausbildung, ein durchschnittliches Bruttoeinkommen, das 55 Prozent niedriger als der regionale Durchschnitt ist, oder eine dreimal höhere Kriminalitätsrate als im landesweiten Schnitt.

Stigmatisierung von Vierteln

Als offizielle Überschrift für diese Politik griff man ausgerechnet auf den Begriff „Ghetto“ zurück, ein von den Nazis verwendeter Terminus für jüdische Wohngebiete und Sammellager, die Übergangsstationen vor dem Transport in Vernichtungslager waren.

Erst ab 2021 wurden aus den jährlich aktualisierten „Ghettolisten“ „Parallelgesellschaften“, „Transformationsgebiete“ und „gefährdete Wohngebiete“. Was an der Stigmatisierung natürlich nichts geändert habe, kommentiert Louise Holck, die Direktorin des Dänischen Menschenrechtsinstituts. Trotz Auswechseln des Etiketts habe man hier ein Gesetz, „aufgrund dessen Menschen ihre Wohnungen wegen ihrer ethnischen Herkunft verlieren können“. Das sei „menschenrechtswidrige Ungleichbehandlung, ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot“.

Das offizielle Ziel dieser Politik, Dänemark bis 2030 „frei von Ghettos“ zu machen, will man dadurch erreichen, dass in diesen vorwiegend in den 1970er Jahren erbauten Gebieten mit Sozialwohnungen ein zwangsweiser „Austausch“ von bis zu 60 Prozent der BewohnerInnen stattfinden soll. Neu in diese aktuell 17 „Transformationsgebiete“ und 67 „gefährdeten Wohngebiete“ dürfen nämlich dann nur noch Menschen mit dänischer oder „westlicher“ Staatsangehörigkeit einziehen.

Abriss und Neubau

Die Sozialwohnungen sollen zu einem großen Teil verschwinden, bis zu 40 Prozent in Eigentumswohnungen umgewandelt werden, wodurch der städtische Wohnungsbau noch mehr dem Markt überlassen wird, kritisieren ArchitekturprofessorInnen. Kommunen können außerdem bestimmen, dass Häuser aus „strategischen Gründen“ ganz abgerissen werden können. KritikerInnen sprechen von einem umwelt- und klimapolitischen Skandal: Für eine diskriminierende Wohnungspolitik würden funktionstüchtige Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Sie verweisen auf Studien, wonach Abrisse und Neubauten bis zu 300-mal klimaschädlicher sind als Sanierungen.

„Unnötig schlampig und brutal“, nennt Steffen Boel Jørgensen, der Geschäftsführer eines Immobilienunternehmens, das Gesetz: „So schlecht, dass es sich jeder Beschreibung entzieht.“ Man überlasse es einfach den Wohnungsunternehmen, dafür zu sorgen, dass die Hälfte der Menschen ihre Wohnungen räumen müssen. Für einige dieser Unternehmen wurde das ein Freibrief, um kurzerhand allen MieterInnen zu kündigen oder die vom Gesetz bis 2030 befristete Vorgabe schnellstmöglich zu erreichen, um mit Verkäufen, Luxusrenovierungen und Umwandlung in Eigentumswohnungen ihre Gewinne zu maximieren. Weshalb von dieser Ghettogesetzgebung keineswegs nur die MieterInnen mit „nichtwestlicher“ Herkunft betroffen sind.

Wie das Ghettogesetz sie aus ihrer Wohnung geworfen hat, schilderte die 80-jährige Rentnerin Lisbeth Bjerregaard Saugmann vor einigen Monaten gegenüber Medien. Kündigung mit dreimonatiger Frist wegen Renovierung und – weil Dänin – theoretisch eine mögliche spätere Aussicht auf einen neuen Vertrag. Aber mit einer Miete, die sie mit ihrer kleinen Pension vermutlich nicht zahlen kann. Die Renovierung sei auch gleich rücksichtslos angegangen worden. Als Erstes habe man die Gemeinschaftsräume herausgerissen, sodass die Seniorengruppe, die sie seit elf Jahren mit anderen Älteren gebildet habe, „keinen Ort mehr für gemeinsame Veranstaltungen und Treffen hatte und nicht einmal mehr eine Weihnachtsfeier für die Kinder von Mjølnerparken veranstaltet werden konnte“.

Eine „politische Machtdemonstration“

Natürlich gebe es in den Vierteln, die man nun Ghettos nenne, soziale Probleme, schildert die Rentnerin. Manche hätten es schwer, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Aber es gebe auch viel Gemeinschaftsleben, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft und sie selbst habe sich nie unsicher gefühlt. Das Ghettogesetz sei „ein Übergriff auf uns Bewohner, eine politische Machtdemonstration“. „Die Befürworter des Gesetzes hatten so unterirdische Argumente, wie dass es für Kinder gut sei, Erwachsene zu erleben, die Pausenbrote schmierten und zur Arbeit gehen. Als ob dies bei uns nicht der Fall wäre“, so die Rentnerin.

In Mjølnerparken und anderen „Ghettovierteln“ organisierte sich die Initiative „Almen Modstand“ (Dt. „Allgemeiner Widerstand“), gegen den „gesetzlich formalisierten Rassismus“, mit dem „Bürger aufgrund von Kategorien wie Bildung und Einkommensniveau sowie stereotypen Vorstellungen über ethnische Zugehörigkeit und Nationalität stigmatisiert werden“. Es fanden Protestaktionen statt, zuletzt im Mai. Es soll weitere geben.

Bau- und WohnforscherInnen wie Mette Mechlenborg von der Universität Aalborg bezeichnen die sogenannte Ghettogesetzgebung, „die für die einen Ausdruck der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft ist, während andere das Gesamtziel begrüßen, eine gemischtere Bewohnerzusammensetzung zu schaffen“, als „größtes wohnsoziales Experiment in der dänischen Geschichte“. Zwar bemühe man sich seit Jahrzehnten, in bestehenden Wohngebieten gemischte Quartiere zu schaffen. Die Frage sei aber, ob sich mit einer Zwangsumgestaltung der physischen auch die soziale Realität ändern werde.

„Negativer Ruf“ der Viertel

„Die Beschreibungen der Wohngebiete in Form quantitativer Daten birgt die Gefahr, dass die Vielfalt der Wohngebiete aus dem Blickfeld gerät“, kritisiert sie. Deren negativer medialer Ruf entspreche oft gar nicht dem Alltagsleben, das die BewohnerInnen selbst empfinden. Begriffe wie Ghettos und Parallelgesellschaften trügen nur zu weiterer Stigmatisierung bei. Damit es gelinge, sozial gemischtere Wohnviertel zu schaffen, wäre es viel wichtiger, „an der Reputation der exponierten Wohngebiete zu arbeiten“. Völlig ungeklärt sei auch, wie sich die Lebenssituation der BewohnerInnen gestalten werde, die man einfach umsiedle.

Ohne ein Konzept für diese zwangsumgesiedelten Menschen zu haben, könne ein solches Programm der Segregation nicht entgegenwirken, meint Emma Holmqvist, Forscherin für Kulturgeografie an der Universität Uppsala. Was auch Erfahrungen beispielsweise in Chicago und London bewiesen hätten. Mit der Zeit werde es dann einfach eine neue und womöglich noch größere Konzentration marginalisierter Gruppen in Gebieten mit billigen Mietwohnungen geben.

Für Lamies Nassri, Projektleiterin am Ceda, dem „Zentrum für die Rechte der Muslime in Dänemark“, ist die unter anderem von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri), dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) und der UN-Konvention gegen Rassendiskriminierung (Cerd) kritisierte Ghettogesetzgebung, „die 155 verschiedene Kulturen in die Kategorie ‚nichtwestliche Einwanderer und Nachkommen‘ steckt, als Gegensatz zur ‚dänischen Kultur‘ definiert und ihnen deshalb den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum beschränkt“, nur Teil einer Serie von rassistischen Maßnahmen, mit denen Kopenhagen vor allem eine Botschaft verbinde: „Ihr sollt weg.“

Klagen gegen das Gesetz

Bei Dänemarks Oberstem Gericht sind mehrere Klagen anhängig. Das Gericht wartet auf die Grundsatzentscheidung des EU-Gerichtshofs in einem Verfahren gegen das Königreich Dänemark wegen gesetzwidriger Diskriminierung „nichtwestlicher“ BürgerInnen. Nassri hofft auf einen Ausgang, der dazu führt, „dass Dänemark wieder ein Land wird, in dem alle vor dem Gesetz gleich sind und das Gesetz für alle gleich ist“.

„Und warum liegt der Fokus eigentlich nur darauf, die sogenannten Ghettos in die Gesellschaft zu integrieren?“, fragt Forscherin Mechlenborg aus Aalborg. „Wenn unser Ziel gemischtere Wohngebiete sind, können wir genauso gut fordern, dass die Reichenghettos sich integrieren und wir dort eine gemischtere Zusammensetzung der Bevölkerung bekommen.“

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