Forschung zu Anne Franks Tagebuch: Welterfolg, anfangs unverkäuflich

Lektor Thomas Sparr untersucht, wie das Tagebuch von Anne Frank zum Bestseller wurde. Deutsche Verlage wollten es erst nicht veröffentlichen.

Handschriftlich beschriebene Seiten in holländisch mit einem kleinen Foto von Anne Frank

Replik des Tagesbuchs von Anne Frank im Center Ana Frank in Buenos Aires Foto: Leo la Valle/picture alliance

Der Schutzumschlag zeigt deutliche Risse, aber das ist kein Wunder für ein 76 Jahre altes Buch. „Het Achterhuis“ lautet der holländische Titel, ins Deutsche übersetzt: das Hinterhaus. Es handelt sich um die Erstausgabe von Anne Franks berühmtem Tagebuch. 12.500 US-Dollar verlangt derzeit ein Antiquar in den Vereinigten Staaten für das Buch, das einmal in immerhin 5.000 Exemplaren gedruckt worden ist. Ob dieser Preis obszön ist, mag jeder selbst beurteilen. In jedem Fall spiegelt er die Bedeutung dieses Buches wider. Es ist wohl eines der meistgelesenen Druckwerke der Welt.

Thomas Sparr: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Die Bio­graphie des Tagebuchs der Anne Frank“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 336 Seiten, 25 Euro

Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionenauflagen erreicht und wurde in Dutzende Sprachen übersetzt. Anne Frank, das jüdische Mädchen, das sich mit seiner Familie vor den Nazis versteckte und 1944 entdeckt wurde, ist in allen fünf Kontinenten populär. Das Leben des im KZ Bergen-Belsen ermordeten Mädchens und seiner aus Frankfurt am Main stammenden Familie ist minutiös erforscht worden, die Sekundärliteratur über sie dürfte mehrere Regalmeter umfassen.

Jetzt endlich ist ein Buch über Anne Frank erschienen, in dem es nicht um die Person Anne Frank geht. Es ist auch kein Werk über das berühmte Hinterhaus, keines über die Freundinnen von Anne, über ihren Vater Otto, die Familie oder den mutmaßlichen Verräter.

Buch über Tagebuch

Dieses Buch widmet sich dem Tagebuch selbst, genauer der vom Vater initiierten Druckausgabe. Geschrieben hat es Thomas Sparr, ehemaliger Cheflektor des Siedler- wie des Suhrkamp-Verlags. Der Schutzumschlag des Buchs ist dem Poesiealbum nachempfunden, das Anne Frank am 12. Juni 1942 zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekam und in das sie ihre Eintragungen notierte.

Sparr kommt zu dem Schluss, dass Anne Franks gedrucktes Tagebuch mit einer „Kette von Misserfolgen, Missverständnissen, Anfechtungen“ begann, hinzu kam die „Niedertracht“ von Ex-Nazis. Nachdem der Vater vom Tod Annes in der KZ-Haft erfahren und das gerettete Tagebuch von Freunden erhalten hatte, entschloss er sich noch 1945 zur Veröffentlichung.

Allerdings gab es da schon zwei unterschiedliche Ur-Texte, nämlich das eigentliche Tagebuch (a) und eine von Anne redigierte Fassung (b), letztere war aber unvollständig geblieben. Daraus entstand durch die Redaktion des Vaters und eines Lektors eine der Version (b) ähnelnde dritte Fassung (c). Erst nach längerer Suche fand sich ein eher kleines niederländisches Verlagshaus, das bereit war, das Buch zu drucken – dies ­wiederum in zwei unterschiedlichen Ausstattungen. Es erschien im Juni 1947 und verkaufte sich von Beginn an gut. Erst 1986 kam im Deutschen eine Version (d) hinzu, bei der die Übersetzerin Mirjam Pressler vor allem auf die Fassung (c) zurückgriff.

Authentizität des Tagebuchs in Zweifel gezogen

Ob diese Entstehungsgeschichte dazu beitrug, dass Alt-Nazis die Authentizität des Buchs in Zweifel zogen, mag dahingestellt bleiben. Tatsächlich gab es immer wieder Fälschungsvorwürfe, obwohl Papier, Leim und Schrift akribisch untersucht und für echt befunden wurden. 1959 verklagte Otto Frank einen Lübecker Aktivisten der rechtsradikalen Deutschen Reichspartei wegen übler Nachrede und Verleumdung. 1961, kurz vor dem geplanten Prozessbeginn, einigten sich die Parteien außergerichtlich. Seitdem haben die Lügengeschichten nicht mehr aufgehört.

In Deutschland war die Veröffentlichung anfangs auf große Schwierigkeiten gestoßen. Große Hamburger Verlage wie Rowohlt hätten abgelehnt, schreibt Sparr. Kiepenheuer in Weimar erklärte es gar für „ungeeignet“. Das Tagebuch konnte schließlich erst 1950 im kleinen Verlag von Lambert Schneider in Berlin erscheinen, später übernahm es S. Fischer. Erst 1957 folgte eine Lizenz-Ausgabe für die DDR beim Verlag der Ost-CDU. Doch schon im November desselben Jahres waren eine halbe Million deutschsprachige Exemplare verkauft.

Erfolg in den USA ab 1955

Nicht viel anders reagierten die Leser anderswo. In den USA wurde das Tagebuch ab 1955 zum großen Erfolg, In Frankreich erschien es schon 1950, in Großbritannien 1952, in Israel 1953. Selbst in Osteuropa konnte Anne Franks Text mit einer gewissen Verzögerung gedruckt werden. Der Erfolg in Japan war grandios. In Südafrika las Nelson Mandela das Buch in der Haft.

Die Familie Frank erscheint im Tagebuch gar nicht als jüdisch

Sparrs Buch ist aber keine ermüdende Aufzählung von Auflagenziffern. Er sucht die Geschichten, die sich hinter der Veröffentlichung, oft im Verborgenen abspielen – die Debatte um Vorworte und Rechteinhaber, Bühnenstücke und Verfilmungen. Schließlich geht das Buch auf die Frage ein, wieso dem Tagebuch weltweit ein derartig nachhaltiger Erfolg beschieden ist. Ein Resultat hierbei ist: Die Familie Frank erscheint im Tagebuch gar nicht als jüdisch. Und dass sie verfolgt und größtenteils ermordet werden sollte, übersah die Nachwelt allzu gerne.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.