Kritik an Musikmagazin „The Wire“: Keine Epiphanie

Plötzlich mittendrin im weltpolitischen Geschehen: Das britische Musikmagazin „The Wire“ veröffentlicht einen Text des Musikers Gaika zum Nahostkrieg.

Gaika Tavares mit Mikrofon

Gaika Tavares 2019 in St. Petersburg Foto: Peter Kovalev/imago

Jetzt also auch The Wire? Positionierung ist wohl unvermeidlich in Stoßzeiten von Polarisierung. In seiner Doppelausgabe Januar/Februar 2024 druckt das renommierte britische Musikmagazin einen Text des Londoner Musikers Gaika, der sich mit den Auswirkungen des Nahostkrieges auf ihn als Künstler beschäftigt.

Das ist ein Novum, weil sich The Wire bisher aus aller Weltpolitik herausgehalten hat. Ob Brexit, Trump oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, wichtige Ereignisse wurden in dem seit den frühen 1980ern publizierten Fachblatt nie direkt kommentiert.

Wobei zwischen den Zeilen selbstverständlich Politik mitschwingt. Es gibt Reportagen über nicht-westliche Musik. Und aus dem männlich-nerdigen Jazzmagazin von einst ist längst eine Publikation geworden, die Künstlerinnen zur Titelstory macht, Autorinnen zu Wort kommen lässt und non-binär mit dem Plural „they“ schreibt.

„Weapons of Mass Distraction“, der Text von Gaika, beginnt mit der Beschreibung eines palästinensischen Mannes, der mit einem Arm die verstümmelte Leiche eines Säuglings inmitten von Trümmern und Rauchschwaden im zerstörten Gaza in die Kamera hält. Gaika identifiziert ihn als Vater. Mit dem anderen Arm macht dieser ein Selfie und singt seinem toten Kind „ein letztes Schlaflied“.

Mehr Selbstreferenz als Selbstreflexion

Weil Gaika die Szene unangenehm wird, scrollt er auf der Timeline weiter und landet bei der Aufnahme eines Konzerts in London, bei dem sich ein Sänger mit dem Rücken zu den Zuschauern positioniert, damit man diese besser sieht. Gaika beschreibt sie als trunken, ergeben würden sie die Songtexte gröhlen. „Wie können sie nur, in Zeiten wie diesen“, schreibt Gaika und räumt ein, dieser Gedanke sei unfair.

Was der Autor als selbstreferentielle Medienkritik des daueralerten „Kreativarbeiters“ leistet, der stets am Handy bleibt, um den Aufmerksamkeitszyklen im Netz 2.0 folgen zu können, kulminiert in dem Absatz: „Grundsätzlich ist die eine Sequenz nicht denkbar ohne die andere. Das Massaker an den … Palästinensern durch die israelische Armee hängt direkt zusammen mit der Indifferenz von (westlichen) Bevölkerungen.“

Seit Jahrhunderten würden „unsere“ Regierungen die rassistische Unterdrückung von „kolonisierten“ Völkern wie dem Palästinensischen unterstützen. Das „Othering“ ist verantwortlich für den Nahostkrieg? Zu israelischen Opfern und der Rolle von Hamas und Iran – kein Wort.

Nachfragen der taz an The Wire blieben unbeantwortet. Beobachter wundern sich, was Gaika dazu befähigt, über diesen komplizierten Konflikt zu schreiben. Künst­le­r:In­nen geben auf der letzten Seite des Magazins monatlich über „Epiphanien“ Auskunft, für sie stilbildende Erfahrungen. Gaikas Beitrag ist leider keine solche.

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