Dirigent Ilan Volkov über Israel: „Dringend eine Lösung finden“

Dirigent Ilan Volkov spricht über die Notwendigkeit der Solidarität mit den israelischen Soldaten im Antiterrorkrieg und politischer Verhandlungen.

Ein israelische Flagge in der Nacht in Tel-Aviv bei Gewitter

„Bei den Ceasefire-Demos geht es nie um die Geiseln“ – Tel Aviv im Dezember Foto: Violeta Santos Moura/reuters

wochentaz: Ilan Volkov, welches musikalische Ereignis hat Sie zuletzt aufgerüttelt?

Ilan Volkov: Wenn ich Musik mit Orchester dirigiere, gibt es Momente, in denen alles erhebend ist. Das passiert nicht oft, und manchmal hält es nur für Sekunden an. Das kann auch während des Konzerts sein. Vergangenes Jahr etwa bei der Uraufführung der Viola-Konzerte von Cassandra Miller in Brüssel.

Hat Musik Ihnen geholfen, die Ereignisse des 7. Oktober zu bewältigen, oder war sie dabei hinderlich?

In den ersten drei Wochen danach habe ich kaum Musik gehört. Ich musste ein Konzert absagen. An Konzentration war nicht zu denken. Zu Hause waren wir in Sorge um Familie und enge Freunde. Inzwischen habe ich einen Weg gefunden und sitze wieder an der Musik.

War das Ausmaß des Terrors für Sie neu?

Es dauerte einige Stunden, bis man verstanden hat, wie brutal diese Terrorwelle war. Der 7. Oktober begann um 6.30 Uhr, als wir zu den Bunkern rennen mussten, weil Raketen auf uns regneten. Als 15-Jähriger habe ich 1991 meinen ersten Raketenangriff erlebt, während des Irakkriegs. Aber das Ausmaß am 7. Oktober war größer. Zwei Dinge wurden deutlich. Zum einen die Machtlosigkeit der israelischen Armee. Eigentlich können wir nicht verlieren, mit einer Armee, die hundertmal stärker ist als die Hisbollah und die Hamas. Zum anderen: Die Hamas war uns an jenem Tag überlegen, sie kämpfte vor allem gegen unbewaffnete Zivilisten. Sie mordeten, raubten, vergewaltigten. Die ersten beiden Tage blieb unklar, wer Hamas-Kämpfer ist, wer palästinensischer Zivilist. Diese Ungewissheit war nachhaltig. Mir wurde aber klar, die israelische Antwort wird furchtbar ausfallen.

Im Buch „Es war einmal in Palästina“ schildert der Historiker Tom Segev Pogrome in Hebron und Jerusalem, 1920, 1922 und 1929 gegen jüdische Menschen durch Araber. Gewalt aus dem Nichts, wie die der Hamas am 7. Oktober. Dann Gegengewalt. Haben Sie eine Erklärung für den Hass?

Der Konflikt dauert mehr als hundert Jahre, die Konfliktlinien gehen tief. In der Zeit vor 1914 lebten hier schon Palästinenser und Juden. Nach 1918 kamen weitere jüdische Mi­gran­ten, da sie vor Pogromen, etwa im Gebiet der heutigen Ukraine, in den Nahen Osten flüchteten. Es kamen auch Juden, die aus arabischen Regionen flüchteten. Das ging weiter in den 1930er und 1940er Jahren, als Flüchtlinge auf der Flucht vor dem NS und vor dem Holocaust kamen. Die Menschen haben sich als zwei Völker wahrgenommen, Araber und Juden. Alles vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Bis 1918 gehörte die Region zum Osmanischen Reich, danach übernahmen die Engländer.

Die Rolle der Engländer wird immer vernachlässigt.

Man muss verstehen, dass die Engländer weder den Arabern noch den Juden zugeneigt waren. Ein Auslöser für den Konflikt! In der Tat hat niemand geholfen, ihn zu lösen. Später gab es einen UN-Friedensplan, aber die Araber haben ihn abgelehnt. Den Krieg von 1967 haben die Araber verloren, die Niederlage jedoch nie akzeptiert. In Israel, Gaza und Westjordanland leben aktuell circa 14 Millionen Menschen. Niemand wird sie irgendwohin schieben können. Jetzt muss man entscheiden: Will man mit dem Schwert weiterkämpfen oder eine friedliche Lösung finden? Die USA müssen vermitteln. Einen anderen Weg gibt es nicht, die Konfliktparteien kriegen es nicht hin.

Die USA befinden sich im Wahlkampf, der fatal enden kann, falls Trump nicht vorher im Gefängnis landet.

Die USA ist ständig im Wahlkampf. Aber Israel muss verstehen, dass seine politische Situation nicht so bleiben wird. Wir wissen nicht, ob die Armee weiter schlagkräftig bleibt, ob die USA noch als Weltpolizist agieren? Deswegen muss man eine friedliche Lösung finden, Ägypten und Israel haben es auch hinbekommen. Ihr Friedensvertrag ist doch ein Vorbild. Es gibt nur diese zwei Wege: ein Staat mit zwei Völkern oder zwei Staaten.

Ilan Volkov, 1976 in Israel geboren, begann als 19-Jähriger das London Philharmonic Youth Or­ches­tra zu dirigieren. 2003 wurde er Dirigent des BBC Scottish Symphony Orchestra. Aktuell dirigiert er als Gast das Brussels Philharmonic. Hierzulande gastierte er etwa in der Hamburger Elbphilharmonie, wo er Olga Neuwirths Oper „The Outcast“ dirigierte. 2012 startete er das Avantgarde-Festival Tectonics, das u.a. in Adelaide, Oslo und Reykjavík stattfindet.

Gibt es überhaupt Gesprächsbereitschaft?

Seit 50 Jahren heißt es, die Palästinenser verstehen nur die Sprache der Gewalt. Aber was macht das mit uns? War das so nach dem Abkommen von Oslo 1993? Hat Israel alles Menschenmögliche getan, um Frieden zu schaffen? Hat sich nur die palästinensische Seite schändlich benommen? Am Ende wollten weder Ariel Scharon noch Benjamin Netanjahu eine Friedenslösung haben, weder für Gaza, noch für Westjordanland. Sie hintertrieben die Friedensbemühungen. Das ist bittere Realität. Die palästinensische Seite denkt genauso wie wir. Die glaubt, die Israelis kennen nur die Sprache der Gewalt und wollen keinen Frieden.

Segev schreibt, schon früher setzten sich Hardliner durch.

In den 1920er Jahren glaubte man noch an etwas anderes. So etwa der rechte Politiker Zeev Jabotinsky, Vater des Likud und ein wichtiger Einfluss auf Begin und Scharon. Er hatte 1923 das Essay „Die Mauer aus Stahl“ verfasst: Auch darin hieß es, die andere Seite verstehe nur die Sprache der Gewalt. Aber damit hat er nicht gesagt, dass man 100 Jahre Krieg führen muss. Sein Argument war, dass ein Kompromiss gefunden wird. Zunächst müssen wir Stärke zeigen, das hat Israel schon 1948 und 1967 getan. Am Ende wird auch die Rechte nach dem Feldzug gegen die Hamas einen Weg finden müssen. Und damit entschuldige ich nicht das Massaker der Hamas. Das war ein schändlicher Terrorakt gegen unschuldige Zivilisten. Ein Kriegsverbrechen. In Israel ist der Diskurs an dem Punkt angekommen, wo alle Schuld für die komplizierte Lage auf das Osloer Abkommen geschoben wird. Das hat leider nichts mit der Realität zu tun. Aber viele Menschen in Israel sind einfach ängstlich.

Ilan Volkov, Dirigent

„Die postkoloniale Linke sollte darüber nachdenken, eine tragfähige Lösung zu unterstützen“

Wovor fürchten sie sich?

Sie fürchten, dass sie von zwei Millionen Palästinensern überwältigt werden. Die politische Klasse sollte den Menschen Stärke und Zuversicht vermitteln. Aber in Israel sorgt sie dafür, dass die Menschen noch mehr Angst haben. Zunächst hieß es, die Geiseln werden innerhalb von drei Monaten befreit, aber nichts ist passiert.

Trotz allem Dissens sind die Israelis solidarisch mit der Armee und setzen sich für die Geiseln ein.

Den Menschen ist die schwierige Lage bewusst. Fast alle glauben, dass wir uns verteidigen müssen. Aber ist Krieg wirklich der einzig richtige Weg? Nach allem, es ist doch Politik, die der Armee sagt, was zu tun ist. Nicht andersrum. Also, etwas von dieser Demokratie funktioniert. Wenn ich sage, ich bin gegen die Regierung Netanjahu, dann ist das unabhängig von meiner Solidarität mit den jungen Soldaten, die jetzt nach Gaza einrücken müssen. Die begeben sich für diese Aufgabe in Lebensgefahr. Ich fürchte, dass wir die Geiseln allein mit Gewalt nicht befreien können. Israel muss dringend eine andere Lösung finden. Wahrscheinlich will die Hamas die 7.000 einsitzenden palästinensischen Häftlinge gegen die Geiseln austauschen. Von diesen 7.000 haben circa 600 Israelis getötet, die anderen haben keine Gewaltverbrechen begangen. Das wird eine schmerzliche Entscheidung für Israel sein, sich darauf einzulassen.

Nach dem 7. Oktober hat sich die postkoloniale Linke aufseiten der Palästinenser positioniert. Israel gilt als Kolonialmacht. Was geht Ihnen da als Linker durch den Kopf?

Israel ist kein idealer Ort, an dem alles perfekt funktioniert. Ganz und gar nicht! Das bedeutet noch lange nicht, dass messianische Terroristen, die Babys töten und Frauen vergewaltigen, mit ihrem Wahnsinn durchkommen dürfen. Man muss sowohl die israelische Regierung wegen ihrer Versäumnisse kritisieren und die rechtsgerichteten Siedler, als auch die Hamas. Die will auch keine palästinensische Demokratie und ähnelt ISIS. Das Wort „Genozid, was auf Israel im Umgang mit den Palästinensern angewandt wird, erklärt gar nichts. Ein Schwarzweiß-Bild mit unschuldigen Palästinensern und bösen Israelis, macht keine Debatte, an der ich mich beteilige.

Die Fronten sind verhärtet

Die postkoloniale Linke sollte darüber nachdenken, ob sie daran interessiert ist, eine tragfähige Lösung zu unterstützen. Bei den „Ceasefire Now“-Demos geht es nie um die Geiseln. Es geht nie um die Machenschaften der Hamas. Wenn das für die Linke normal sein soll, den 7. Oktober als legitimes Mittel zu betrachten, um eine Kolonialmacht zu bekämpfen, finde ich das sehr problematisch.

Wie ist es Ihnen seither in Europa ergangen?

Schlimm war es etwa in London im Cafe Oto, weil die offiziellen Statements von dort einseitig waren. Obwohl ich privat differenziertere Meinungen auch dort gehört habe. Seit mehr als 15 Jahren drangsaliert die Hamas die palästinensische Bevölkerung. Frauen haben keinerlei Rechte.

Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Musik über alle Gräben hinweg Menschen emotional bewegen kann?

Vielleicht ist Ihre Frage zu optimistisch, aber ich glaube, am Ende wünschen sich alle Menschen ein gutes Leben. Dazu gehört Musik. Sie spielt im Alltag etwa eine Rolle, wenn sie ihren Kindern Gute-Nacht-Lieder vorsingen. Musik vermittelt eine andere Realität. Sie ist etwas, das aus uns selbst kommt und uns immer bewegt. Aber sie ist auch etwas, das wir nicht genau verstehen. Musik schafft Freiheit! Man kann mit ihr abschweifen, sogar von ihr ohnmächtig werden, ihr so gebannt lauschen, dass man alles andere vergisst. Ich hoffe, dass wir weiterhin die Möglichkeit haben, uns ihrer Schönheit hinzugeben.

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