Kritik an Israel: Sprachlose Weitergabe

Ist Kritik an Israel wegen der Täterschuld nicht möglich? Davon kann keine Rede sein – die Aufarbeitung drang nie in die Tiefe der Gesellschaft ein.

Brandenburger Tor bei einer Gedenkveranstaltung.

Das Brandenburger Tor in Berlin am 85. Jahrestag der Pogrome vom November 1938 Foto: Andreas Friedrichs/imago

Amerikanische linke und linksliberale Intellektuelle, aber auch Vertreter des Postkolonialismus in Deutschland erwecken den Eindruck, dass es in Deutschland aufgrund einer Täterschuld nicht möglich und opportun sei, Israel zu kritisieren. Es gebe vielmehr eine fragwürdige offizielle Antisemitismusdefinition, die jede Kritik an Israel im Keim ersticke.

Als Beleg wird die Absage von Veranstaltungen und Ausstellungen mit Vertretern des Globalen Südens, die sich kritisch zu Israel äußern, angeführt. Auch die Verpflichtungserklärung, die der Berliner Kultursenator allen Vertragspartnern abfordern wollte – wovon er inzwischen abgerückt ist –, stieß in diesem Zusammenhang auf massiven Widerspruch.

Wenn es so wäre, dass es aufgrund von politischen Tabus weder auf institutioneller Ebene noch auf gesellschaftlicher Ebene möglich ist, Israel und seine Regierung zu kritisieren, müsste man sich ernsthaft Sorgen um die Meinungsfreiheit in Deutschland machen. Es ist zudem legitim und notwendig, Versuchen einer Zensur der Kritik an Israel und dem Vorgehen gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen entgegenzutreten.

Gleichwohl ist der Eindruck, dass man in Deutschland Israel nicht kritisieren dürfe oder könne, grundfalsch. Jeden Tag wird in der Öffentlichkeit kritisch über die Netanjahu-Regierung, rechtsextreme Minister und das Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen berichtet. Auch die dortige inhumane Lage wird ausführlich dargestellt.

Die Erinnerung an den Holocaust läuft Gefahr, zu einer ritualisierten Pflichtaufgabe zu werden

Zudem wird Israel gemahnt, sich an das Völkerrecht und zivile Standards zu halten sowie die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung sicherzustellen. Außerdem wird seit Monaten mit Sympathie über die Protestbewegung in Israel gegen die Netanjahu-Regierung und deren Versuche, die Demokratie auszuhöhlen, informiert. Es kann also keine Rede davon sein, dass man sich in Deutschland nicht kritisch mit Israel auseinandersetzen könne.

Überhaupt stellt sich die Frage, ob es in der deutschen Mehrheitsgesellschaft jene „Täterschuld“ gibt, von der behauptet wird, dass sie Kritik an Israel verhindere. Viele Deutsche sind vielmehr gegenüber den Juden und deren Schicksal ziemlich desinteressiert und gleichgültig, wie vor kurzem eine Umfrage von Forsa gezeigt hat: 59 Prozent der Befragten sagten, dass ihnen Israel fremd sei, nur 23 Prozent empfanden eine „Nähe“ zu Israel. Auch die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit am Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 fiel erschreckend gering aus.

Die 68er-Generation kann sich zugutehalten, mit der Elterngeneration die Auseinandersetzung über die Verstrickung in die Nazi-Verbrechen öffentlich geführt zu haben. Insofern ist ein gewisser Stolz auf die in dieser Auseinandersetzung entstandene deutsche Erinnerungskultur zwar berechtigt, aber ob das Ausmaß der Erinnerung angesichts der jüngsten antisemitischen Vorfälle wirklich in die Tiefenschichten der Gesellschaft vorgestoßen ist, bleibt fraglich.

Erinnerung als ritualisierte Pflicht?

Zwangsläufig hat die Erinnerung an den Holocaust im Laufe der Zeit unter den Nachfolgegenerationen nicht nur nachgelassen, sondern läuft auch Gefahr, zu einer ritualisierten Pflichtaufgabe zu werden. Der französische Philosoph Claude Lefort hat einmal gesagt: „Seit einiger Zeit spricht man viel von der ‚Pflicht, sich zu erinnern‘. Das ist erfreulich. […] Aber ohne die Pflicht zu denken, läuft die Pflicht, sich zu erinnern, Gefahr, wirkungslos zu sein.“

Jedenfalls hat die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht so tiefgreifend das Familiengedächtnis vieler deutscher Familien erreicht wie erhofft. Zwar wird im öffentlichen Raum durch Mahn- und Gedenkstätten sowie in Sonntagsreden an die Gräueltaten der Vergangenheit erinnert, aber das verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf die nächsten Generationen übertragen.

Die Nachfolge­generationen sind auch heute noch mit der sprachlosen Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert. Dies gilt für den Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften. Man muss befürchten, dass es jenseits der hohlen Bekenntnisse der AfD-Führung zur christlich-jüdischen Tradition vor allem unter den Mitgliedern der ostdeutschen Landesverbände der AfD einen tief sitzenden Antisemitismus gibt.

Weniger Mitgefühl mit Juden

Vor diesem Hintergrund kann man zumindest infrage stellen, ob es in der behaupteten Breite überhaupt jene Täterschuld unter den Deutschen gibt, von der gesagt wird, dass sie eine Art Zwangssolidarität mit Israel stifte. Im Unterbewusstsein wird es sicherlich auch bei den Nachgeborenen noch etwas von diesem Schuldbewusstsein geben, aber gerade durch dessen Verdrängung wendet sich das Mitgefühl eher von den Juden ab als ihnen zu.

Wenn man noch einen Schritt weitergeht, kann man auch sagen, dass es zu einer Schuldumkehr gekommen ist, indem sich insbesondere linke Strömungen mit „den“ Palästinensern solidarisieren, weil sie als vermeintliche „Opfer der Opfer“ betrachtet werden. Dabei ist es die Hamas, die – ähnlich wie die Nationalsozialisten – die Juden auslöschen will, und zwar einzig und allein deshalb, weil sie Juden sind.

Und wenn heute jüdische Studierende in Deutschland durch propalästinensische Aktivisten am Betreten von Hörsälen behindert werden, erinnert das auf fatale Art und Weise an das Vorgehen des NS-Regimes. Vor diesem Hintergrund kann man froh sein, dass es wenigstens in den politischen Institutionen und in der politischen Klasse eine klare Haltung zu Israel, seinem Existenzrecht und seinem Recht auf Selbstverteidi­gung gibt.

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