Abschiebungen von ÊzîdInnen in den Irak: Pro Asyl fordert Sonderregelung

Niedersachsen schiebt seit April uneingeschränkt in den Irak ab. Besonders für ÊzîdInnen ist das unzumutbar, heißt es in einem neuen Gutachten.

Zwei Polizisten bringen zwei Asylbewerber zu einem Polizeiauto.

Auch Niedersachsens ÊzîdInnen droht die Abschiebung wie hier in Leipzig 2015 Foto: Sebastian Willnow/dpa

BREMEN taz | Seit April schiebt Niedersachsen abgelehnte AsylbewerberInnen ohne Einschränkungen in den Irak ab. Bisher waren Abschiebungen nur möglich, wenn sich Personen strafbar machten, oder als GefährderInnen eingeschätzt waren. Nun stellt ein neues Gutachten im Auftrag von Pro Asyl diese Praxis erheblich infrage. Die Situation im Irak sei insbesondere für ÊzîdInnen unhaltbar.

ÊzîdInnen sind von der niedersächsischen Entscheidung besonders betroffen. Mit 250.000 Menschen befindet sich in Deutschland die größte europäische Diaspora. Die meisten ÊzîdInnen leben in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Noch im letzten Jahr hatte der Bundestag beschlossen, das Massaker, das die Terrororganisation IS 2014 an den ÊzîdInnen verübte, als Genozid anzuerkennen. Damit gab er ein besonderes Schutzversprechen für êzîdisches Leben in Deutschland. Dennoch sieht das Bundesinnenministerium derzeit keine Belege für eine systematische Verfolgung von ÊzîdInnen und lehnt deshalb eine Sonderregelung im Asylrecht ab. In der Vergangenheit hat es solche Sonderregelungen durchaus schon gegeben. Sie sind sowohl auf Länder,- als auch auf Bundesebene realisierbar.

Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher bei Pro Asyl, kann nicht nachvollziehen, „wieso Niedersachsen jetzt diese Entscheidung getroffen hat und welchen Anlass es dafür gibt“. Das sei für ihn „rational nicht begründet“. Er spricht sich deutlich gegen den niedersächsischen Beschluss und für eine gruppenbezogene Sonderregelung bei ÊzîdInnen aus.

Pro Asyl fordert generellen Abschiebestopp in den Irak

Darüber hinaus fordert er einen generellen Abschiebestopp in den Irak. Insbesondere ÊzîdInnen würden in die Ungewissheit, zumeist ohne Perspektive geschickt. Die Community lebe oft nicht mehr an den ursprünglichen Orten im Nord­irak, sondern in Massenunterkünften, die 2014 einmal als Nothilfslager geschaffen wurden, so Alaows. In diese schwierigen Lebensbedingungen kämen auch die Abgeschobenen aus Deutschland. In den Unterkünften fehle es an Infrastruktur oder sogar am Zugang zu Wasser. Die Menschen seien traumatisiert, es käme deshalb zu Suiziden.

Pro Asyl sieht einen klaren Widerspruch zwischen dem Schutzversprechen der Bundesregierung durch die Anerkennung des Genozids und der Praxis bei den Asylverfahren. Das von Pro Asyl und der Menschenrechtsorganisation Wadi e. V. herausgegebene Gutachten beschreibt die Lage der ÊzîdInnen „als Gruppe, deren Lebensgrundlagen systematisch zerstört wurden“. Der Völkermord habe „das gesellschaftliche Gewebe vor Ort zerrissen“. Gehäuft würden Êzîdinnen vor Ort frei herumlaufende Vergewaltigungstäter wiedererkennen: „Die Täter von gestern und die potenziellen Täter von morgen wohnen in der Nachbarschaft oder im nächsten Dorf“, heißt es in dem Gutachten.

In Shingal (Sinjar), dem Siedlungsgebiet der ÊzîdInnen im nördlichen Irak, stehen diese nun zwischen allen Fronten. Bis zu zehn Milizen unterschiedlicher staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen, darunter auch des Iran und Syriens, trügen ihre teilweise bewaffneten Machtkämpfe dort aus. Das Gebiet habe sich unter anderem auch wegen türkischer Luftangriffe und gezielter Tötungen durch Drohnen in ein „Schlachtfeld“ zwischen der ansässigen PKK und der Türkei verwandelt. Laut dem Gutachten sind in der Stadt Shingal und Umgebung 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Privathäuser schwer zerstört. Für die instabile Lage sei keine Lösung in Sicht.

Eine konkrete Begründung für die Entscheidung des Landes gibt es nicht. Oliver Rickwärtz, Pressesprecher des niedersächsischen Innenministeriums, verweist auf Anfrage der taz darauf, dass zuerst StraftäterInnen und GefährderInnen die Abschiebung drohe. Außerdem nehme das für die Asylanträge zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), in individuellen Fällen Rücksicht auf eine êzîdische Religionszugehörigkeit bei IrakerInnen. Die Ausländerbehörden der Länder seien dann bei abgelehnten Asylgesuchen für die Abschiebungen zuständig.

Thema bei der Innenministerkonferenz?

Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen bestätigt, dass es informelle Praxis einiger Länder ist, auch ohne einen formellen Abschiebungsstopp geflüchtete ÊzîdInnen nicht abzuschieben. Das bringe der Gruppe aber keine Sicherheit. Der niedersächsische Beschluss löse zusätzlich „massive Unsicherheit aus, macht krank und setzt die Betroffenen unter Druck“, so Weber. Laut Einschätzung des Flüchtlingsrats gilt die niedersächsische Entscheidung „dem selbst geschaffenen politischen Druck, die Abschiebungszahlen womöglich um jeden Preis zu erhöhen“.

Bisher mussten noch keine ÊzîdInnen Niedersachsen zwangsweise verlassen. Pro Asyl sind aber Fälle aus anderen Bundesländern bekannt. Die Abschiebungen in den Irak könnten bei der kommenden Innenministerkonferenz im Juni ein Thema sein. Alaows sorgt sich aber, dass man dort nun mit Niedersachsen „ein Bundesland verloren hat, das eigentlich progressiver vorgeht, und so einen Ausgleich, zu beispielsweise Bayern oder Brandenburg schuf“. Seit einem „Migrationsdeal“ im Mai 2023 zwischen Deutschland und dem Irak haben Abschiebungen dorthin stark zugenommen.

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