Die Wahrheit: Zu schlapp für Säbelzahntiger

Die Rückabwicklung des Menschen: Der Homo sapiens hält sich für die Krone der Schöpfung, dabei schreitet die Regression munter voran.

Bunter Cartoon: Eine Art Seeungeheuer taucht aus dem Wasser und spricht zu einem Mensch, der mit E-Roller am Ufer steht und sich ein Getränk hinter die Binde kippt: “Hab' ich mir gedacht, dass Ihr irgendwann zurückkommt. Aber so? Euer Ernst?" und "Lol!"

Illustration: Ruth Hebler

Wir Menschen haben der Evolution inzwischen ein Schnippchen geschlagen. Als erste Spezies des Universums haben wir das fundamentale Prinzip ausgehebelt, uns weiter fortzuentwickeln. Wir haben es aufgegeben, uns an unsere Nische, auch genannt Erde, anzupassen. Stattdessen regredieren wir. Vielleicht ist die Nische zu groß. Vielleicht ist unsere Art zu defizitär. Oder Darwin muss neu und rückwärts gelesen werden. Eine tragische Bestandsaufnahme.

Luftleer zum Yoga

Selbst körperliche Reflexe wie das Atmen können wir nicht mehr ohne Hilfe ausführen. Unfähig in den Bauch zu atmen, schleppen wir uns ermattet durch die Straßen. Der Atem verstockt, verklemmt, verbarrikadiert. Die Lunge ein löchriger Blasebalg. Mit letzter Kraft taumeln wir durch die Glastür ins überfüllte Yogastudio. Hier wird noch in vollkommener Vollendung geatmet! Glücklich, wer einen Platz ergattert, um den verlorenen Atemrhythmus zurückzuerlangen.

Wir brauchen mehr Yogastudios. Atmen ist existenzieller als Wohnen. Auch in beengten Großstädten müssen wir Wohnraum in Yogastudios umwandeln. Supermarktparkplätze stehen abends leer. Dort schaffen wir mit ein wenig Pappe und etwas Feng Shui eine lebenswerte Wohnnische. Simple living ist der nächste Wohntrend!

Die dehydrierte Gesellschaft

Das Wassertrinken war einst eine über Jahrtausende eingeübte Kulturpraxis. Doch gehörte sie so selbstverständlich zum Alltag, dass keine Schriftaufzeichnungen über diese archaische Praxis existieren. Immerhin: Findige Unternehmen und altruistische Influencer haben sich zusammengeschlossen, um uns nach Wasser Dürstenden mit Hilfe wohldesignter Trinkflaschen zu hydrieren.

Sie leuchten in Signalfarben, damit wir sie erkennen, längst blind für dieses Bedürfnis namens Durst. Die Flaschen sind mit Filtereinsätzen ausgestattet, um das öde Nass mit Ingwer, Zitronenscheibe oder Gurke aufzuwerten. Milliliterskalen zeigen unseren Fortschritt, egal wie klein er ausfällt. Das wird nicht reichen, um unsere dehydrierte Gesellschaft wieder fluide zu bekommen. Wir werden ausgediente Sonnenstudios zu Rehydrierungs-Stationen umbauen. Vor Schule und Arbeit müssen alle zwei Stunden an den Tropf. Sonst gehen wir als mumifizierte Gesellschaft in die Geschichte ein.

Jeder Schritt ist shit

Der Urmensch musste es schmerzhaft erlernen. Ursprünglich saß er den ganzen Tag bräsig auf seinem Hintern in der Höhle herum. Kurz vor Sonnenuntergang folgte er seinen Gelüsten nach ein paar Nüsschen. Verließ er schwerfällig die Höhle, schlenderte der Säbelzahntiger easy hinterher. Mit einem Prankenhieb beförderte er den lebensuntüchtigen Höhlendeppen geradewegs ins Jenseits. Darauffolgend evolvierte der Mensch bis hin zum Top-in-Shape-Neandertaler mit flacher Stirn und breitem Kreuz. Er merzte mit leichthändigen Keulenschlägen den Säbelzahntiger und gleich dazu das Mammut aus. Und schuf einen fatalen Kreislauf.

Denn heute sitzen wir den ganzen Tag bräsig auf dem Hintern im Büro herum. In unzähligen Videocalls konferieren wir uns nahezu bewegungsunfähig. Kurz vor Sonnenuntergang folgen wir unseren Gelüsten nach Fastfood und verlassen schwerfällig den breitgesessenen Arbeitsplatz. Lebte der Säbelzahntiger noch, weckten wir in diesem Zustand nicht einmal mehr seinen Jagd­instinkt. Er würde ungläubig seinen Großkatzenkopf schütteln, rumpelten wir auf unserem E-Scooter vorbei. „Lieber vegan, als das“, würde er sich enttäuscht von uns sagen. Wir Menschen haben alle unsere natürlichen Feinde besiegt – bis auf uns selbst. Aber das schaffen wir auch noch.

Fischige Verbalkompetenz

Wir wissen nicht, ob sich unsere Vorfahren am Höhlenfeuer Haikus zuflüsterten. Doch waren sie vermutlich der Sprache mächtig, legen wissenschaftliche Untersuchungen nahe. Eine faszinierende evolutionäre Errungenschaft, die unser soziales Miteinander in großen Gruppen erst ermöglicht. Wie könnten wir sonst der Politesse erklären, warum es wirklich nötig war, die Feuerwehreinfahrt der Kita für schlappe drei Stunden zu blockieren, um unseren Bart im Barbershop ölen zu lassen.

Doch diese Fähigkeit schwindet. Der Frau vom Ordnungsamt geben wir nur noch unseren Instagram-User-Namen. Die Story aus dem Barbershop erklärt schließlich alles. Im Supermarkt schreiben wir dem Kassierer in einer Whatsapp, dass wir leider noch keine Payback-Punkte sammeln. Wir texten unseren Kindern in Reddit-Foren, um die Bettgehzeit zu kommunizieren. Sind wir zum direkten Gespräch gezwungen, fehlen die Worte.

Die Evolution dagegen arbeitet effektiv: Sie hat längst verstanden, dass wir nur noch über uns selbst statt miteinander sprechen. So schnappen unsere Münder auf und zu, hilflos wie der Fisch auf dem Trockenen. Schon bald sind wir dieser Fisch – unfähig zu sprechen. Es reicht uns die Flosse, um Zeichen zu tippen. Dank neuster Schutzklasse IPX7 sind die Endgeräte wasserdicht. Denn unser evolutionärer Weg führt zurück vom Land in den Tümpel.

Schlafen in drei Zügen

Das Verhältnis des Menschen zum Schlaf war noch nie einfach. Unser Vorfahre, der Homo erectus, machte es dem Leoparden gleich und schlief auf Bäumen. Bis er neben eben diesem aufwachte. Benebelt vom morgendlichen Mundgeruch der Großkatze folgte die Flucht auf den harten Boden.

Dort gewannen Schlangen, Ratten und Krabbeltiere den Verdrängungswettbewerb, und das Bett kam in Mode. Müsste nur noch geschlafen werden, doch das fällt der Spezies Mensch heute so schwer wie noch nie. Denn die Gegner des Schlafs scheinen übermächtig: Feiernde Nachbarn, quietschende Bahnen, hupende Autos, lichtversmogte Innenstädte und lärmende Vogelscharen. Die Forschung weiß: Sieben Fünftel der Menschen haben Schlafstörungen. Und dabei sind Schichtarbeiter nicht miteingerechnet!

Während wir schlaftrunken durch den Tag stolpern, arbeitet die Konsumgüterindustrie an unserer Erlösung. Pod-casts mit Meeresrauschen, Noise-Canceling-Kopfhörer, Apps für Autogenes Training und Ratgeberliteratur wie: „Schlafen in drei Zügen“, „Flacher schlafen: Die perfekte Körperhaltung für die Nacht“ oder „Schlaf: Geschichten über einen Hurensohn“. Wir haben damit so viel zu tun, dass wir gar nicht mehr zum Schlafen kommen. Dabei heißt es doch so schön: „Wer schläft, schadet nicht.“ Würden wir das nur beherzigen!

So fahren wir mit dem E-Scooter in den Sonnenuntergang. Unsere Augen vom Schlafmangel gerötet. Der dehydrierte Körper lässt uns halluzinieren: Steht da am Straßenrand eine Politesse oder ein Säbelzahntiger? Vorsichtshalber halten wir voll drauf. Wir sind immer noch die Krone der Schöpfung!

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