Krieg in der Ukraine: Kultur und Raketen

Immer wieder bombardiert Russland in der Ukraine auch Kulturstätten, wie in Odessa. Die Angriffe sind so häufig, sie können kein Zufall sein.

Der Krater einer russischen Rakete ist auf der Straße zu sehen, im Hintergrund das Museum mit seinem klassischen Säulen-Eingang

Risse in der Fassade: das Kunstmuseum in Odessa. Im Vordergrund: der durch eine russische Rakete verursachte Krater Foto: Nina Liashonok/Avalon/imago

Der nasse Schnee schmatzt beim Gehen­ über den Vorplatz zwischen den Stiefeln. Kateryna Kulay tritt näher an den Zaun. Durch die Streben des windschief in den Angeln hängenden Eisentores kann man zur Straße blicken. „Dort ist die Rakete eingeschlagen“, sagt sie und zeigt auf eine Mulde, über die der Schnee über Nacht eine weiße Decke gelegt hat.

An einem Abend im November war das. Auf einem Video einer Überwachungskamera kann man sehen­, wie gerade noch ein Auto vorbeifährt, bevor eine Sekunde später ein grelles Licht aufblitzt. „Der Krater war anfangs mehrere Meter tief“, erinnert sie sich. Aber die Kommunalarbeiter hätten ihn mit Trümmern teilweise wiederaufgefüllt.

Kateryna Kulay leitet seit vergangenem Jahr das Museum der bildenden Künste in Odessa – beziehungsweise das, was davon übrig ist. Auch wenn die Rakete an jenem Abend das Gebäude verfehlt hat, sind die Schäden beträchtlich. „Hier ist es am schlimmsten“, sagt Kulay und führt in einen Seitenflügel. Der war dem Raketeneinschlag am nächsten.

Risse in der Fassade

Von außen sieht er auf den ersten Blick stabil aus, auf den zweiten Blick kann man Risse in der Fassade mit dem rostroten Anstrich erkennen. Im Inneren ist es dunkel. Man muss Taschenlampen benutzen. Die Stromkabel sind zerrissen. Alle Fenster sind zerstört und mit Pressspanplatten vernagelt. Die Druckwelle hat die Türen aus den Angeln gerissen und Zwischenwände eingedrückt, der Putz ist von der Decke­ gefallen. „Hier waren unsere Büros, aber jetzt ist es zu gefährlich.“

Porträt von Kateryna Kulay vor dem Museumseingang

Kateryna Kulay leitet das Museum der bildenden Künste in Odessa Foto: Marco Zschieck

Der prächtige Bau befindet sich an einer Hauptstraße am Rand der Innenstadt. Das Gebäude wurde ab 1805 für die Adelsfamilie Potocki im neoklassischen Stil nach Plänen des italienischen Architekten Francesco Boffo erbaut, der auch für die große Treppe und das Rathaus verantwortlich war. Es steht unter Denkmalschutz und zählt wie die ganze Innenstadt von Odessa seit Anfang 2023 zum Unesco-Welterbe.

Ab 1899 wurde das Gebäude in ein Kunstmuseum umgewandelt. Zu Ausstellungszwecken wurden bis zum Beginn von Russlands Angriffskrieg 16 Räume genutzt. Zu den mehr als 10.000 Artefakten der Sammlung gehören vor allem Gemälde vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, darunter auch Frühwerke Wassily Kandinskys. Auch eine Sammlung von Werken des sozialistischen Realismus gehörte zur Ausstellung.

Gleich hinter dem Gebäude fällt der Hang des Plateaus, auf dem die Innenstadt steht, steil ab zum Hafen. Der ist seit Beginn der Invasion im Februar 2022 mehrfach mit Raketen und Drohnen angegriffen worden. Über ihn wird ein Großteil des ukrainischen Getreideexports abgewickelt, eine wichtige Einnahmequelle für das Land, besonders im Krieg. „Eigentlich hatten wir gedacht, dass diese Seite des Museums am gefährdetsten wäre“, sagt Kulay. Deshalb wurden die Fenster dort vorsorglich mit Holzplatten abgedeckt. „Aber nun kam es genau andersherum.“

Angriffe auf kulturelle Einrichtungen wohl kein Zufall

Angriffe auf kulturelle Einrichtungen kommen in Russlands Kriegsführung so häufig vor, dass nicht von Zufällen auszugehen ist. Einer der frühesten und folgenreichsten war die Bombardierung des Theaters in Mariupol am 16. März 2022, in dessen Räumen Hunderte Zivilisten Schutz vor dem Kämpfen um die Stadt gesucht hatten. Die genaue Zahl der Opfer wird wohl nie ermittelt werden können, weil Russland die Spuren beseitigt hat. Schätzungen gehen von 600 Toten aus.

In der Oblast Charkiw brannte das Museum für den Philosophen Hryhorii Skovoroda nach einem Granatentreffer im Mai 2022 aus. In Winnyzja wurde im Juli 2022 ein Kulturhaus mit Marschflugkörpern zerstört. Auch in Tschernihiw im Norden der Ukraine wurde im August 2023 ein Theater getroffen, in Cherson wurde die Bibliothek mehrfach beschossen.

Viele Kulturstätten beschädigt

Nach Angaben des Kulturministeriums der Ukraine sind bis zum 10. Januar 2024 insgesamt 872 Kulturstätten beschädigt oder zerstört worden. Allein die Unesco hat seit dem 24. Februar 2022 Schäden an 337 Stätten verifiziert – 126 religiöse Stätten, 148 Gebäude von historischem und/oder künstlerischem Interesse, 30 Museen, 19 Denkmäler, 13 Bibliotheken und ein Archiv.

Ob die russische Armee auch ihr Museum absichtlich beschossen habe, wisse sie nicht, sagt Kulay. Nur, dass die Waffe eine umfunktionierte Antischiffsrakete vom Typ Onyx gewesen sei. Das hätten die Ermittler gesagt. Dieser Raketentyp ist wegen der hohen Geschwindigkeit und der geringen Flughöhe kaum aufzuhalten. Eine Tupperdose mit Raketensplittern zeigt sie später im Keller. Die größte Sorge gelte dem Dach des Museums, erzählt sie.

An Reparatur nicht zu denken

Durch die Explosion seien Pflastersteine in die Luft geschleudert worden. Als sie wieder hinabstürzten, trafen sie das Dach. „Es hat 50 Löcher.“ Man versuche, das notdürftig abzudichten, damit im Winterhalbjahr die Feuchtigkeit nicht ins Innere des Hauses eindringe. „Zuerst müssen die Schäden begutachtet werden.“ Dann müsse man die Substanz sichern. An Reparaturen sei im Moment nicht zu denken. Nicht solange die Stadt weiter beschossen werde.

Schon auf dem Weg ins Hauptgebäude wird deutlich, was das bedeutet. „Am Portikus mit den sechs mächtigen Säulen besser nicht stehen bleiben“, sagt sie noch, bevor es hineingeht, und zeigt nach oben. Dort sei es ­gefährlich. Tatsächlich sind vom Deckenputz in zehn Meter Höhe mehrere Quadratmeter heruntergestürzt. Der Rest sieht auch nicht vertrauenerweckend aus. In mehreren Türen fehlen die Glasscheiben. Ähnlich steht es um das Oberlicht im großen Ausstellungssaal.

Durch die Schäden habe sie aber auch neue Dinge über ihr Museumsgebäude gelernt, scherzt Kulay. Die Wucht der Detonation habe mehrere Fenster und Türen freigelegt, die im Laufe der langen Geschichte des Hauses bei Umbauten zugemauert worden waren. „Die waren in keinen Plänen verzeichnet.“ Sie vermute, dass einer ihrer Vorgänger so größere Wandflächen gewinnen wollte, um mehr Gemälde aufzuhängen.

„Die Kunstwerke der Dauerausstellung haben zum Glück keinen Schaden genommen“, sagt Kulay. Die habe man gleich am ersten Tag der russischen Invasion an einen sicheren Ort gebracht. Allerdings befand sich zum Zeitpunkt des Raketeneinschlags eine Wechselausstellung mit Malerei und Skulpturen lokaler zeitgenössischer Künst­le­r:in­nen in einigen der Museumsräume. Einige der Bilder ­fielen von den Wänden, Rahmen zerbrachen, Skulpturen wurden umgeworfen. „Aber es gab wohl keine bleibenden Schäden.“

Kontroverse um Katharina II.

Ein sehr großes Ausstellungsstück ist geblieben: In einer Art Garage auf dem Außengelände ist eine Statue der russischen Kaiserin Katharina II. auf Holzpaletten gelagert. Bis Dezember 2022 stand die Skulptur auf einem Platz in der Altstadt, der ebenfalls ihren Namen trägt. Nach Beginn von Russlands Invasion hatte eine Petition für ihren Abbau mehrere Zehn­tausend Unterschriften gesammelt.

Unter der Regentschaft der gebürtigen Deutschen hatte das russische Kaiserreich in mehreren Kriegen die Nordküste des Schwarzen Meeres erobert. Mehrere Flottenstützpunkte sollten die Eroberung absichern. Einer davon war Odessa. Auch wenn es dort schon vorher Siedlungen und die türkische Festung Hacibey gegeben hatte, galt Katharina II. als Stadtgründerin. Das Denkmal für sie wurde 1920 von den Bolschewiki zerstört. Erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine begann die kontroverse Diskussion um einen Wiederaufbau. 2007 wurde schließlich eine Kopie aufgestellt.

Kunsthistorisch sei die Skulptur nicht sehr interessant, meint Kulay, weil es nur eine Kopie sei. „Aber über die Geschichte unserer Stadt erzählt sie viel.“ Das Museum sei deshalb ein guter Platz, um den nötigen Kontext herzustellen. Sie könne verstehen, warum viele Menschen sich mit der Statue der russischen Kaiserin in der Mitte der Stadt unwohl gefühlt hätten. Schließlich führe das heutige Russland wieder einen imperialen Eroberungskrieg und Odessa sei eines der Ziele.

Eine Diskriminierung der russischen Kultur sieht sie darin nicht. „Wir entscheiden hier selbst.“ Alles sei fachmännisch demontiert worden. Und nach dem Krieg solle die Skulptur ihren Platz in der Ausstellung finden. Gefahr drohe dem kulturellen Erbe hingegen durch den Beschuss. Die russische Rakete verfehlte die Skulptur der Kaiserin nur um etwa zwanzig Meter.

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