Säuglingsmord in Irland: Die Abgründe des Katholizismus

Der Tod von Baby John beschäftigt Irland seit fast vier Jahrzehnten. Der Fall zeigt auch, wie sehr katholische Moralvorstellungen Frauen schadeten.

Ein Holzkreuz auf grünem Rasen. Auf dem Kreuz steht geschrieben "Unknoen Infant"

Das Abtreibungsverbot war in der Verfassung verankert, nicht selten wurden tote Babys gefunden Foto: Charles McQuillan/getty images

DUBLIN taz | Baby John ist in Irland wieder in den Schlagzeilen. Vor fast 40 Jahren, am 14. April 1984, hatte man den Leichnam des drei Tage alten Säuglings am Strand von Cahersiveen im Südwesten der Grünen Insel gefunden. Er wies 28 Stichwunden auf und sein Genick war gebrochen. Dank neuer DNS-Analysen, die damals noch nicht zur Verfügung standen, hat man jetzt die Eltern ausfindig gemacht. Ein 61-Jähriger und eine 59-Jährige wurden verhaftet, sind aber inzwischen wieder frei.

Es waren andere Zeiten damals. Ehescheidung war verboten, Verhütungsmittel gab es nur auf ärztliches Rezept, das Abtreibungsverbot war in der Verfassung verankert, Vergewaltigung in der Ehe war kein Verbrechen, ledige Mütter wurden manchmal in Klöstern weggesperrt, im Parlament saßen fast nur Männer, Homosexualität wurde mit Gefängnis bestraft. Die katholische Kirche regierte, und die Politiker spielten mit.

Nicht selten wurden tote Babys gefunden. Junge Mädchen, die ungewollt schwanger geworden waren, wussten oft keinen anderen Ausweg, als die Kinder aus Angst vor der Familie und der Kirche im Moor, im Steinbruch oder im Mülleimer zu entsorgen, wenn sie nicht selbst starben, so wie die 15-jährige Ann Lovett, die im Januar 1984 ihr Kind heimlich in einer Mariengrotte geboren hatte und verblutet war.

Von Polizei zum Geständnis gedrängt

Nachdem Baby John gefunden worden war, stellte die Polizei in den Krankenhäusern und Arztpraxen der Gegend Nachforschungen an und stieß auf Joanne Hayes, die offenbar schwanger gewesen war, aber kein Baby vorweisen konnte. Hayes lebte mit ihrer Mutter, einer Schwester, zwei Brüdern und ihrer älteren Tochter Yvonne auf dem Bauernhof ihrer Tante. Man verhörte die Erwachsenen tagelang, bis sie das vorformulierte Geständnis unterschrieben: Hayes habe ihr Baby umgebracht, und man habe ihr geholfen, den Leichnam am Strand zu deponieren.

Doch dann änderte Hayes ihre Aussage: Sie habe einen Jungen namens Shane zur Welt gebracht, aber er sei kurz nach der Geburt gestorben. Sie habe ihn auf dem Bauernhof beerdigt. Dort fanden die Polizisten ihn auch, aber nun hatten sie zwei tote Babys und ein Problem. Sie lösten es auf ihre Art, indem sie behaupteten, Hayes habe Zwillinge zur Welt gebracht.

Sie habe Shane auf der Farm vergraben, dann habe sie John getötet und am 80 Kilometer entfernten Strand entsorgt. Die Polizisten ließen sich auch nicht durch die Tatsache beirren, dass Johns Blutgruppe weder zu Hayes, noch zum Vater von Shane passte. Die Beamten erklärten das mit Superfekundation – zweieiige Zwillinge mit unterschiedlichen Vätern.

Als diese Theorie zunehmend bröckelte, erfand die Polizei ein drittes Baby, das genau wie Baby John umgebracht worden sei und noch immer irgendwo im Atlantik schwimme. Schließlich hatte man ja die Geständnisse der Familie Hayes. Die aber widerriefen ihre Aussagen und erklärten, die Polizisten hätten Druck ausgeübt und sie misshandelt.

Tribunal glich mittelalterlichen Hexenprozess

Im Oktober 1984 wurde die Mordanklage schließlich fallengelassen. Die Regierung leitete ein Tribunal ein, um herauszufinden, wie es zu den falschen Anklagen gekommen war. Dieses „Kerry Babies Tribunal“ unter Vorsitz des Richters Kevin Lynch erinnerte an mittelalterliche Hexenprozesse. Hayes wurde fünf Tage lang in ein Kreuzverhör genommen, das mehrmals unterbrochen wurde, weil Hayes, die der Amtsarzt mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatte, sich übergeben musste.

Hochrangige Polizeibeamte, die als Zeugen geladen waren, beschrieben Hayes als „loses Frauenzimmer“ ohne moralische Werte, die Männer in den Abgrund zog. Lynch bezichtigte Hayes, sie habe den verheirateten Mann verführt und ihren Sohn Shane dann getötet. Man stellte Hayes mehr als 2.000 Fragen, bei denen es vor allem um ihre sexuellen Aktivitäten ging. Das Tribunal war zu einem Prozess gegen Hayes und ihren Verstoß gegen die katholischen Moralvorstellungen geworden.

Die Frauen aus Hayes’ Wohnort Abbeydorney, die sich mit ihr solidarisierten und vor dem Gerichtsgebäude protestierten, beschimpfte der Richter als „lärmende, ignorante Stadtbewohner“ und drohte ihnen mit Gefängnis. Der Polizei bescheinigte Lynch hingegen tadelloses Verhalten. Erst 2020 entschuldigte sich die Regierung bei Joanne Hayes und ihrer Familie und zahlte eine Entschädigung.

Irlands Frauen glauben nicht an das irische Justizsystem

Mary McAuliffe, Historikerin und Direktorin des Gender Studies Programme am University College Dublin, schrieb auf Twitter: „Restaurative Justice und Entschuldigungen bei Frauen sind inzwischen regelmäßige Ereignisse in diesem Land, aber sie kommen oft tröpfchenweise, widerwillig und unvollständig.“

Die linke Partei People Before Profit schreibt in einer Presseerklärung: „Es ist ja keine Überraschung, dass Irlands Frauen nicht an das irische Justizsystem glauben. Eine neue Untersuchung der Universität Cork hat ergeben, dass 57 Prozent der Frauen, die Opfer von Stalking oder sexueller Belästigung wurden, nicht zur Polizei gegangen sind.“

Die schlechten Erfahrungen mit der Polizei und der Justiz überwogen bei Weitem die positiven Erfahrungen, heißt es in der Untersuchung. In vielen Fällen gab die Polizei den Frauen die Schuld. Zwar habe sich der Staat endlich bei Joanne Hayes entschuldigt, aber die Politiker seien immer noch nicht gegen die zutiefst sexistische Kultur im Justizwesen angegangen.

Den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft

Irland hat zwar in kürzester Zeit den Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert geschafft und durch Volksentscheide Homosexualität entkriminalisiert, den Tatbestand der Blasphemie abgeschafft, gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibung legalisiert, aber die Sache ist noch nicht ausgestanden.

Es laufen immer noch mehrere Untersuchungen, zum Beispiel zu den katholischen „Mütter-und-Baby-Heimen“, wo unverheiratete Frauen ihre Kinder zur Welt brachten, die ihnen sofort weggenommen und an US-Paare verkauft wurden. Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit dem Fund von Hunderten Kinderskeletten in einem Abwassertank eines katholischen Kinderheims. Und dann sind da auch die sogenannten Magdalenen-Mädchen, die für die Nonnen schuften mussten.

Irlands Frauen haben den Kampf noch lange nicht gewonnen, und auch Baby John ist noch keine Gerechtigkeit widerfahren. Im Jahr 2021 öffnete die Polizei sein Grab und entnahm eine neue DNS-Probe. Die wurde mit der DNS von 40 Menschen aus Cahersiveen, die ihre Proben freiwillig abgegeben hatten, verglichen. Das führte schließlich zu den Eltern von Baby John.

Aber haben sie den Säugling auch getötet? Bisher haben sie keine Aussage gemacht, und die Staatsanwaltschaft hat bisher keine Anklage erhoben. Ihr Anwalt berichtete von einem mysteriösen Bekannten der Eltern, der vor fünf Jahren verstorben sei. Er habe sich zu der Zeit des Mordes in der Gegend aufgehalten. Was dieser Bekannte für eine neue Wendung im Fall von Baby John bedeutet, ist Teil der Ermittlungen.

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