Slavoj Žižek über Krieg und Klima: „Ich bin gegen die woke Linke“

Der Philosoph Slavoj Žižek will „Kriegskommunismus“ zur Bewältigung der Klimakrise. Was soll das sein?

Slavoj Zizek steht vor einem Auto

Slavoj Žižek, wohin geht die Reise in Zeiten von Spätkapitalismus und Katastrophen? Foto: Neven Allgaier

Slavoj Žižek betritt das Foyer eines Hotels in Frankfurt am Main, und seine Stimme ist sofort raumfüllend. Beim Gespräch gibt er sich alle Mühe, seinem Ruf als „der gefährlichste Philosoph des Westens“ gerecht zu werden. Wie in allen Porträts über ihn vermerkt, denkt und redet er assoziativ, ohne Punkt und Komma. Als Zwangsneurotiker, sagt er, spreche er nicht deshalb ununterbrochen, damit etwas geschehe, sondern weil nichts geschehen könne, solange er selbst rede.

wochentaz: Herr Žižek, Ihre Antwort auf die Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen durch die Erd­erhitzung lautet: Kriegskommunismus. Was soll das sein und was soll das bringen?

Slavoj Žižek: Wir sind in einer Lage, in der man die Wahrheit zwar ohne Probleme aussprechen kann, doch diese Wahrheit wird nicht ernst genommen. Das Ekelhafteste der vergangenen Jahre war die UN-Klimakonferenz in Glasgow, alle waren sie da, der damalige Prince Charles und alle anderen. Und sie alle sagten, wie ernst es sei und wie schlimm es stehe, aber es war bereits in der Veranstaltung und ihrer Funktion inbegriffen, dass das keine echten Konsequenzen haben würde. Unsere grundsätzliche Haltung ist: Wir wissen, dass es ernste Probleme gibt, aber wir akzeptieren nicht, dass wir wirklich unsere Art zu leben ändern müssen.

Der Wissenschaftler

Philosoph und Marxist, geboren 1949 in Ljubljana. Er lehrt in New York, London, Ljubljana.

Das Theorie-Universum

Hegel, Marx, Lacan.

Der Autor

Bücher veröffentlicht Žižek fast im Jahrestakt. Im Frühjahr 2023 erschien von ihm im Verlag S. Fischer „Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten“.

Sondern?

Unsere Haltung ist immer noch: Lasst uns mal schön drüber sprechen und vielleicht ändern wir dann opportunistischerweise hier und dort ein kleines bisschen. Der letzte Schock in dieser Beziehung war für mich der russische Krieg gegen die Ukraine. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, was unser geheimer oder gar nicht so geheimer Wunsch war.

Nämlich?

Der Wunsch war: Okay, lasst uns das schnell beenden, Russland gewinnt sowieso. Ich sprach anfangs mit einigen Politikern, die mir sagten: Es wird schnell vorbei sein, dann werden wir ein paar Jahre gegen Russland protestieren, aber schnell zum Normalen zurückkehren. Die schlimmste Überraschung war, dass die Ukrainer nicht bereit waren, so einfach zu verlieren. Und obwohl wir nun so tun, als bewunderten wir ihren Heroismus, sind wir im Geheimen wütend auf die Ukrainer, weil sie nicht verlieren wollen.

Da werden wir total sauer, wenn man uns das unterstellt.

Ja, das mögen wir nicht. Es ist eine total verdrehte Situation, und das ist auch der Grund, warum ich in Deutschland praktisch nicht mehr vorkomme, ich komme ab und zu noch in der Welt vor. Aber zum Beispiel die Zeit hat mich fast verboten.

Die Zeit-Kollegen sagen, das sei ja wohl der Witz des Universums.

Wann haben Sie mich zum letzten Mal in der Zeit gelesen? In Großbritannien habe ich regelmäßig im Guardian geschrieben, dem größten britischen Linksliberal-Mitte-Medium, jetzt bin ich da praktisch verboten. Das ist das, was Sie gerade eingeworfen haben: Man sollte solche Dinge nicht aussprechen.

Noch mal zur Ausgangsfrage: Was ist Kriegskommunismus?

Ich meine damit etwas ganz Einfaches. Als die Pandemie begann, riefen sogar Boris Johnson und ganz besonders Trump: Hier passieren Dinge, die man nicht dem Markt überlassen kann. Der Letzte, der in dieser Hinsicht wirklich gehandelt hat, war der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt 1942 im Zweiten Weltkrieg: Direkte Anweisungen an die Industrie, Flugzeuge, Waffen, das und das müsst ihr tun. Ich träume nicht von einer künftigen Regierung der unglaublichen Solidarität. Denken Sie nicht, dass wir uns auf die Klimakrise wirklich vorbereiten müssen? Ich zitiere jetzt einen Philosophen, der als rechts gilt, aber sehr viel ambivalenter ist.

Sie sprechen von Sloterdijk?

Richtig. Peter Sloterdijk. Er sprach über „objektive Sozialdemokratie“, wie er das nennt. Das meint nicht die Partei, sondern Maßnahmen, die heute zum So­zialkontrakt von Gesellschaften gehören: kostenlose Schule, kostenlose Gesundheitsversorgung und so weiter. Wir sollten davon so viel wie möglich behalten – und uns zudem als Gesellschaft auf die ökologischen und ökonomischen Probleme vorbereiten, aber auch verstehen, dass lokale Probleme globale Gründe haben. Man kann sie nicht lokal lösen, es braucht Koordination, die größer als nationalstaatliche ist.

Zuerst mal wollen Sie aber einen zentralistischen Ökostaat im Kriegs­modus?

Ich sage nicht Verstaatlichung, ich kenne die daraus resultierenden Probleme ja genau. Es gibt dann Korruption, es wird ineffizient und so weiter. Aber manchmal braucht es eine so­ziale Intervention, die den Markt reguliert. Das nenne ich provokativ Kriegs­kommunismus, aber eben um klar zu machen: Das ist kein kleiner Albtraum, der am Morgen wieder vergangen ist. Wir sind jetzt in einer permanenten Notlage. Darin enthalten ist auch reale Kriegsgefahr. Das betrifft nicht nur die Ukraine. Wie Walter Benjamin sagt: Wir können nicht einfach, wie Marx dachte, den Zug Richtung Zukunft übernehmen; was wir brauchen, ist die Notbremse. Wir müssen aus diesem Zug aussteigen.

Wie wäre es, zu sagen: Leute, ihr seid erwachsen, es gibt zwei Möglichkeiten: Wir passen uns an den Klimawandel an und machen die Wirtschaft zukunftsfähig – oder wir lassen es bleiben. Mehrheit entscheidet. Ihr habt die Freiheit; auch zu Aufgabe und Unfreiheit. In der Hoffnung, dass dadurch klar wird, dass wir im Moment eben nicht handeln und uns aktiv für Handeln entscheiden.

Da stimme ich total mit Ihnen überein, sehr gut. Die ganze Strategie des hegemonialen Diskurses von heute zielt darauf, zu sagen, wir tun ja schon das „Mögliche“. Aber Kriegskommunismus geht weiter: Roosevelt sagte nicht, wir brauchen mehr Waffen, er befahl es. Es geht nicht darum, was der Markt will oder was die Leute wollen: Wir sind in einem Krieg ums Überleben und brauchen jetzt ein bisschen mehr von einer guten Herrschaft.

Das ist Populismus.

Ist es nicht, weil es gegen die populäre Meinung gehen muss. Was ist Populismus heute? Etwas sehr Seltsames. Erinnern Sie sich an den 6. Januar 2021 in Washington? Die neue Rechte stahl uns mit ihrem Sturm aufs Kapitol sogar die Revolution. Trumps Chefideologe Steve Bannon sagte: Ich bin ein wahrer Leninist, ich will den Staatsapparat zerstören. Die paradoxe Situation war dann, dass die Linke plötzlich die Sprache von Gesetz und Ordnung sprach, nach der Nationalgarde rief und sagte: Warum greift die Polizei nicht brutaler durch? Aber wenn Sie diesen softautoritären Schub Richtung stärkerer Staat und Kriegskommunismus nicht mögen: Was ist denn Ihre Lösung?

Meine Antwort ist und bleibt die liberale Demokratie und das Argument.

Ja, ja, ich weiß selbstverständlich, wie wertvoll die liberale Demokratie ist, keine Frage, aber meine Sorge ist: Kann sie immer noch Leute mobilisieren? Zumindest brauchen wir mehr Notfallstaat-Mobilisierung oder vielleicht mit noch mehr Entfremdung – Leute, die dadurch zulassen, dass der Staat handelt.

Ich geben Ihnen recht, dass wir in einer grotesken Parodie von ­Habermas’ kommunikativem Handeln Sprechen mit Machen verwechseln. Je stärker wir beschwören, die Klima­krise bekämpfen zu wollen, desto mehr CO2 hauen wir in die Atmosphä­re raus. Um in Ihren Psychologien zu denken: Ist uns das wirklich nicht klar oder tun wir das absichtlich?

Hier bin ich ein Pessimist: Unterschätze nie das Ausmaß, in dem Leute bereit sind, sich selbst zu täuschen. Die Frage ist nicht einfach, ob wir das absichtlich tun oder nicht. Das hier ist etwas, was Freud in wunderbarer Sprache die fetischistische Verleugnung nennt. Wir wissen, dass es Ernst ist, aber wir nehmen es trotzdem nicht ernst. Wir wissen um die Gefahren, aber wir können dennoch nicht handeln. Da ist etwas Verzweifeltes in dieser Situation, vielleicht – entschuldigen Sie, wenn ich das sage – brauchen wir eine ernsthafte Katastrophe für das Aufwachen.

Ich mag das überhaupt nicht, auf eine geile Katastrophe zu hoffen, weil wir Menschen es angeblich sonst nicht kapieren.

Tja. Wir in Westeuropa lebten auf einem wunderbar isolierten Kontinent, Krieg gab es nur im Fernsehen. Der Krieg ­gegen die Ukraine dagegen ist in unserer Nähe, wir können ihn nicht wegschieben. Das bringt aber wieder eigene Probleme mit sich. Während ich die Ukraine hundertprozentig unterstütze, so mag ich es doch nicht, wenn Selenski sagt: Wir verteidigen die europäische Zivilisation. Damit spricht er Putins Sprache, indem er das Gegenteil von Putin sagt, also Westeuropa sei dekadent und so weiter. Nein, das ist ein radikalerer und generellerer Konflikt. Wir verteidigen einige … nennen wir das mal naiv: Werte. Universale Werte. Die wirkliche Lektion aber ist, dass es eben auch nicht mehr rein lokale Kriege gibt. Und genau deshalb haben wir auch nicht mehr das Recht, auf Distanz zu bleiben.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat uns Deutsche aus unserem gemütlichen geopolitischen Nirwana geworfen. Wir haben angefangen, darüber nachzudenken, ob der Hinweis auf die deutsche Schuld noch angewendet werden kann, um sich aus allem rauszuhalten.

Aber haben Sie eine Antwort, wie man Leute mobilisiert? Ich meine mobilisieren im Sinne des Wortes, und ich meine gerade Linksliberale. Die sagen oft zu mir: Ich hab die Patenschaft für ein kleines Kind in Somalia übernommen, ich sende jeden Monat 50 Dollar, einmal im Jahr kriege ich ein Foto.

Was wollen Sie uns sagen?

Ein australischer Stamm, glaube ich, hat Folgendes zu westlichen Besuchern gesagt: Wenn ihr gekommen seid, um mit uns zu kämpfen, willkommen. Wenn ihr aber gekommen seid, um mit uns zu sympathisieren, dann verpisst euch. Ich will sagen: Wir müssen diese Charity-Logik ablegen, die darin besteht, dass wir bezahlen, damit andere bleiben, wo sie sind, weit weg von uns – und wir nichts an dem ändern müssen, wie wir leben. Und jetzt sage ich Ihnen mal etwas, wofür mich viele Linke hassen.

Bitte.

Ich habe nie diese simplizistische Theorie akzeptiert, dass man seinen Grad an radikalem Linkssein daran bemisst, wie viel Einwanderung man möchte. Zunächst mal: Offene Einwanderung ist keine Lösung, sondern fast schon eine Formel für Bürgerkrieg. Zweiter Punkt: Diejenigen, die kommen, sind in der Mehrheit die Privilegierten dort, die sich die Inanspruchnahme dieser Netzwerke und der Fluchtindustrie leisten können. Häufig junge Männer. Es bringt nichts, darüber nachzudenken, wie viele hierher kommen sollen. Meine wahre Sympathie gilt denen, die dort bleiben. Es braucht also einen grundlegenden radikalen Wechsel, globalökonomisch, sonst wird das nicht funktionieren.

Wo soll der herkommen? Der Westen hat viele Fehler gemacht beim Versuch, anderswo grundlegende Wechsel durchzusetzen.

Ja, Putin ist die Reaktion gewesen auf die katastrophale ökonomische Situation in den Jelzin-Jahren unter westlichem Einfluss. Der Westen hat damals mit seinen ökonomischen Ratschlägen Russland Richtung China geschoben. Schauen Sie: China hat den Kapitalismus intelligenter eingeführt, man begann mit kleinen Unternehmen, die natürliche Ressourcen für den alltäglichen Bedarf hergestellt haben. In Russland war das umgekehrt: Sie privatisierten Öl, Minen, Rohstoffe, das war eine Katastrophe. Anti-Eurozentrismus ist heute fast schon eine Mode. Die Mehrheit der Linken in Lateinamerika, Putin und die Rechten in den Vereinigten Staaten haben eines gemeinsam: Hass auf das vereinte Europa.

In Vielfalt geeint“ heißt das schöne Motto der EU.

Ich denke immer noch, dass Europa ein großes Vermächtnis der Emanzipation und der EU-Idee hat, dass verschiedene Kulturen zusammen ihre Probleme ­lösen.

Das ist ja eine total langweilige Position für einen Provokateur wie Sie. Die habe ich auch.

Ja, die ist langweilig. Ich weiß schon, dass die Leute mich den Kerl nennen, der gern das Gegenteil sagt, das mag auch so sein. Aber vielleicht ist ja langweilig sein die neue Haltung. Was ist denn die Alternative? Katastrophe. Nein: Ökonomisch vereint, aber kulturell getrennt, das ist mein Ideal.

Also auch nicht den viel beschwo­renen Kulturgraben zwischen Stadt und Land, Osten und Westen be­arbeiten?

Nein, nehmen Sie die Schweiz: ökonomische Vereinigung mit kultureller Autonomie. Wales, Schottland! Kulturelle Identitäten sind die besten Waffen gegen neue rassistische Tendenzen. Aber ich zweifle, ob die traditionellen liberalen Demokratien in Zukunft funktionieren werden. Man hat alle vier Jahre Wahlen, während China bis 2050 durchplanen kann. Wir brauchen eine Idee, wie wir individuelle Freiheit schützen und dennoch größere Koalitionen hinbekommen. Deshalb bin ich auch so gegen die woke Linke. Weil sie spaltet sich in Kleingruppen, die sich gegenseitig attackieren. Statt Gemeinsames voranzubringen, sät sie ständiges Misstrauen gegenüber allem, was man sagt, und völlig ohne grundsätzliches Programm. Das ist wirklich tragisch und selbstzerstörerisch. Wir werden uns stärker in Richtung große Koalitionen orientieren müssen. Vielleicht hatte ja Deng Xiaoping recht – dafür werden Sie mich jetzt aber wirklich hassen –, dass er dem Druck 1989 nicht nachgegeben hat, in China Demokratie einzuführen.

Er hatte recht damit, den Studentenprotest für Freiheit mit Panzern brutal niederzuschlagen zu lassen und eine drei- bis vierstellige Zahl Menschen umzubringen?

Nein, das nicht, aber es gibt unglaubliche Spannungen, etwa zwischen der Region Peking und der Region Shanghai. Wenn man Mehrparteiendemokratie einführte, das ist die These, würden sich die Parteien nicht nach politischen, sondern nach geografischen, lokalen, ethnischen, nationalistischen Gesichtspunkten sortieren und alles würde auseinanderbrechen. Was Deng Xiaoping tat, ist dieses: Ein starker Staat, auf starker nationaler Verteidigungslogik fußend, übt moderate Kontrolle über die Wirtschaft aus. Eigentlich hat er China von einem kommunistischen zu einem moderat faschistischen Land verwandelt. Das wird auf Dauer aber auch nicht funktionieren. In China sind sie verzweifelt, die ganze Zeit Proteste.

Dann hatte Deng also doch nicht recht?

Das Problem ist: Wie tut man das, was China tut, ohne seine neofaschistische Formel zu benutzen? Ich denke, wir brauchen auf jeden Fall sehr große Koalitionen – aber die dominante liberale Logik verhindert jede Form einer größeren Koalition.

Sie sprechen immer so routiniert über „die Linke“. Gibt es die überhaupt?

Im alten Sinne nicht. Allerdings ­brauchen wir die Linke mehr denn je. Unsere Gesellschaften sind mehr und mehr blockiert von einer Konstellation mit einem liberalen Zentrum – prokapitalistische Leute, kulturell immer progressiv, wie sie das nennen, die ein bisschen mit Sozialrechten flirten, jaja, den armen Armen helfen blabla. Und dann gibt es zunehmend die neuen Rechtspopulisten. Das große Problem ist es, aus dieser Konstellation herauszukommen. Leute wie Trump sind nicht vom Mond heruntergefallen, das dürfen wir nie vergessen. Sie werden stark, weil viele normale Leute sehr unzufrieden sind mit dieser dominierenden liberalen Demokratie.

Nun die Gretchenfrage für Sie als Marxisten: Marx wusste nichts von den Folgen fossiler Produktion …

Ja, aber …

Jetzt lassen Sie mich auch mal was sagen.

Bitte.

Das marxistische Denken, die Sozialdemokratie sowieso, kann den Verteilungsanspruch nicht zusammenbringen mit einer Gerechtigkeit, die auch Natur nicht mehr ausbeutet und zudem die Rechte der Zukünftigen sichert.

Ja, stimmt. Sie haben recht, dass Marx die Grenzen des Wachstums nicht wirklich klar waren, aber er hat da immerhin dran rumgedacht. Brutal gesagt aber war Marx’ Idee von Kommunismus: Kapitalismus ohne Kapitalismus. Die gleiche kapitalistische Dynamik einer permanent wachsenden Produktion – ohne Kapital, expansive Produktion ohne Profitmotiv. Das war sein großer Traum – und der war falsch. Ich denke, dass wir grundsätzlich aufhören sollten mit der Idee des Fortschritts. Nicht im reaktionären Sinne, sondern in dem Sinn, den uns die Geschichte gelehrt hat. Falls sie uns irgendwas gelehrt hat.

Heißt?

Jede Epoche muss radikal Fortschritt neu definieren. Das ist der Grund, warum ich mich als Hegelianer definiere.

Hab mich schon gefragt, wann Sie endlich Hegel ins Spiel bringen.

Wissen Sie, was das Großartige an Hegel ist? Wann immer etwas Großes passierte, war seine erste Frage: Wie können jetzt die Dinge schieflaufen? Wie entstand aus der Freiheit der Französischen Revolution der Terror? Das hat ihn geprägt. Hegel würde die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geliebt haben, die war fast paradiesisch.

Hm.

Doch. Frieden, Fortschritt, sozialer Fortschritt. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. Wie entsteht aus einem halben Jahrhundert Paradies diese Mega­katastrophe? Das wäre Hegels Moment gewesen, und deshalb brauchen wir heute Hegel. Bei all den verrückten Dingen, die wir tun und im Begriff sind noch zu tun, brauchen wir Leute, die uns sagen, wie Dinge schiefgehen können, um sie gegebenenfalls nicht zu tun.

Zum Beispiel?

Denken Sie an die verrückte Idee, Schwefel in die Atmosphäre zu schießen, um das Weltklima abzukühlen. Wer weiß denn, welche anderen Katastrophen das triggern kann? Wir brauchen nicht einfach neue Utopien. Wir brauchen mehr denn je kritisches Denken, das permanente Aufmerksamkeit darauf richtet, wie die Dinge schief­gehen können. Hier muss ich zu­geben, dass Rosa Luxemburg das schon 1918 bei Lenin gesehen hat, als sie kritische Bemerkungen zum Bolschewismus schrieb. Sie war aber auch naiv, als sie sagte: Die Zukunft ist entweder Sozialismus oder Barbarei. Mit Stalin bekamen wir beides gleichzeitig. Jedenfalls ist die kritische Lage, in der wir sind, der Grund, warum wir die Philosophie mehr denn je brauchen.

Letztlich sei Demokratie nur ein Deckmäntelchen für Kapitalismus, sagen Sie.

Wo habe ich das gesagt?

In Ihrem neuen Buch.

Das ist eine Provokation.

Die Frage ist dann aber doch: Leben wir in der Illusion einer liberalen Demokratie?

Nein, nein, ich bin ein guter Hegelianer und weiß, dass Illusionen nie nur Illusionen sind. Marx sah das sehr klar: Illusionen erhalten unsere Wirklichkeit. Ich bin nicht gegen Demokratie. Ich denke nur: Wenn wir überleben wollen, muss die Demokratie neu erfunden werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.