Propalästinensische Demonstrationen: Kritik an Hamas unerwünscht

Diskussionen über das Verbot propalästinensischer Demos haben wieder zugenommen. In Essen hatten Islamisten ein Kalifat gefordert.

Junge Männer stehen auf dem Neptunbrunnen mi Palästina-Flaggen - im Hintergrund der Fernsehturm

In Berlin nahmen am Samstag nach Veranstalterangaben 20.000 Menschen an einer propalästinensischen Demonstration teil Foto: Stefan Boness

Es ist Samstagabend und schon dunkel, als Tausende Demonstrierende mit Palästina-Fahnen und -Bannern auf den Potsdamer Platz in Berlin strömen, dem Endpunkt ihres Protests. Und als eine Polizeisprecherin fast erleichtert von einem „weitgehend friedlichen Verlauf“ der propalästinenschen Demonstration spricht. Rund 9.000 Teilnehmende habe man gezählt und „nur in Einzelfällen“ habe es Festnahmen gegeben. Der Tenor: Es hätte schlimmer kommen können.

Die Bilanz der Veranstaltung, zu der ein Bündnis mehrerer propalästinensischer Gruppen sowie der israelkritischen Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost aufgerufen hatte, sieht am nächsten Tag so aus: 68 Festnahmen, dazu 36 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung, der Billigung von Straftaten oder Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte.

Auch in anderen Städten gingen am Wochenende Tausende Menschen für Palästina auf die Straße – und gegen Israel. In Düsseldorf waren es laut Polizei rund 17.000, in Bremen, Frankfurt, Dresden oder Münster jeweils mehrere Hundert. Für Aufsehen sorgte vor allem Essen, wo bereits am Freitagabend Is­la­mis­t*in­nen auf die Straße gingen und ein Kalifat forderten.

Das sei „völlig inakzeptabel“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Am Wochenende seien „Grenzen überschritten“ worden, fügte er hinzu. Man werde „mit der ganzen Härte des Rechtsstaats“ reagieren. Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter erklärte, auch die Bilder aus Berlin zeigten „massiv Terrorunterstützung“ und Israelfeindlichkeit. „Wieso werden solche Demos nicht untersagt? Man weiß ja, wie sie enden?“

Die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic sagt der taz: „Antisemitismus, Gewalt und islamistische Parolen dürfen wir in Deutschland nicht tolerieren. Auch die Versammlungsfreiheit rechtfertigt diese Ausschreitungen nicht.“

Skandiert wurde „Allahu akbar“

Hängen blieben von diesem Wochenende vor allem die Bilder aus Essen. Schon am Freitagabend waren dort laut Polizei 3.000 Protestierende auf die Straße gegangen. Einige skandierten Parolen oder zeigten Plakate, die ein „Khilafah“, ein Kalifat, forderten. Frauen und Kinder liefen getrennt im hinteren Teil des Aufzugs. Skandiert wurde „Allahu akbar“. Die Polizei konstatierte, dass der angezeigte Versammlungsgrund der Solidarität mit Palästina „möglicherweise nur vorgeschoben war, um eine islamreli­giöse Versammlung auf Essens Straßen durchzuführen“.

Mitorganisiert hatte den Protest die Gruppe „Generation Islam“. Bekannt für die Gruppe ist vor allem Ahmad Tamim, der in Essen auch als Redner auftrat. Die Gruppe kommt aus dem Spektrum der bereits 2003 in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Vor allem in sozialen Medien ist „Generation Islam“ sehr aktiv, zusammen mit „Muslim Interaktiv“. Größere Aktionen gab es bereits in Hamburg, wo die Gruppe seit drei Jahren aktiv ist und schon im Frühjahr 3.500 Anhänger auf die Straße brachte, damals um gegen Koranverbrennungen zu protestieren. Auch in Berlin trat Tamim zuletzt bei einer Anti-Israel-Kundgebung auf.

Israel wirft die „Generation Islam“ einen „Besatzungsgenozid in Palästina“ vor. Dagegen müssten Muslime weltweit aufstehen. „Wie lange wollen wir tatenlos zusehen, wie die Kuffar (Ungläubige, Anm. d. Red.) unsere Gesellschaften systematisch zerstören??“, schrieb die Gruppe zuletzt auf Facebook. Ziel sei es, dass Muslime eines Tages „unter einem Kalifen wieder vereint sind“.

Über den Aufzug am Freitag äußerte sich Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) entsetzt. Die Bilder seien „nur schwer erträglich“. Der Verfassungsschutz müsse bei den Hizb-ut-Tahrir-Nachfolgern schärfer hinschauen, Verbote müssten eine Option sein. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kündigte an, alles Bild- und Tonmaterial von der Demonstration darauf zu prüfen, „was ansatzweise strafrechtlich relevant sein könnte“.

Protestzug von vorwiegend jungen Männern und einer großen Flagge mit arabischer Schrift

Essen am 03.11.2023: Begleitet von der Polizei demonstrierten die Teilnehmer gegen den israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen Foto: Christoph Reichwein/dpa

Auflagen werden nochmal genau überprüft

Auflagen für künftige Versammlungen würden „nochmal genau überprüft“. Verbote gegen Gruppen wie „Generation Islam“ würden von NRW „intensiv unterstützt“. Zuständig aber sei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Ihr Haus wollte sich am Sonntag auf taz-Anfrage vorerst nicht zu den Protesten und möglichen Verboten äußern. Am Donnerstag hatte Faeser die Hamas und deren Unterstützergruppe Samidoun in Deutschland verboten.

In Berlin und weiteren deutschen Städten gab es am Samstag andere Bilder als jene aus Essen. In der Bundeshauptstadt hatten „Palästina Spricht“, die „Palästina Kampagne“, Migrantifa und „Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ mobilisiert – kein islamistisches Bündnis, sondern ein linkes und migrantisches. Aber auch diese Gruppen positionieren sich eindeutig. So hatte „Palästina Spricht“ das Hamas-Massaker auf Israel vom 7. Oktober als „revolutionären Tag“ gepriesen, auf den man „stolz sein könne“.

Vor Ort zeigt sich neben der arabischen und muslimischen Community vor allem ein junges, internationales Publikum. Kopftuch tragende Frauen mit Kinderwägen laufen neben Le­der­ja­cken­trä­ge­r:in­nen und Menschen mit bunt gefärbten Haaren. Dazwischen ein paar weiß-deutsche Altlinke, die kommunistische Fahnen tragen, oder die „Queers for a free Palestine“. Auch die Linkspartei Neukölln läuft mit einem Banner mit. Ein Mann mit Palästinafahne erklimmt den Neptunbrunnen auf dem Berliner Alexanderplatz. Die Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen sprechen von bis zu 20.000 Menschen.

Grundtenor auf der Demonstration ist, dass Israel einen Genozid an den Palästinensern begehe, auch das Wort „Besatzungsterror“ ist oft zu hören. „Israel bombardiert, Deutschland finanziert“, skandieren Teil­neh­mende. Einen Mann mit „Free Gaza from Hamas“-Schild drängen Ord­ne­r:in­nen aus der Demo. Vereinzelt wird Pyrotechnik gezündet, sonst bleibt es weitgehend friedlich.

„Die Demo hat gezeigt, dass die Community in Berlin nicht tatenlos dabei zusieht, was in Gaza passiert“, sagt Tim Smith, Pressesprecher der Palästina Kampagne, der taz. Nicht wenige der Teil­neh­me­r:in­nen haben selbst Angehörige in Gaza. „Für mich ist die Veranstaltung sehr wichtig“, sagt Teilnehmerin Sara, die ihren Nachnamen nicht nennen will, der taz. Die 19-Jährige Studentin sagt, sie habe Freun­d:in­nen und Verwandte in Gaza, wegen der Informationssperre gebe es aber derzeit keinen Kontakt. „Ein Sohn meiner Cousine hat einen Instagram-Account, immer wenn er etwas postet, wissen wir, dass sie noch am Leben sind.“

Hamas wird gefeiert

Grautöne und differenzierte Analysen sind auf der Demo kaum zu finden. Mehrheitlich ausgeblendet wird die Verantwortung der Hamas. Das Massaker, bei dem die radikalislamistische Terrororganisation am 7. Oktober über 1.400 Menschen tötete, sprechen die meisten Red­ne­r:in­nen nicht einmal an. Genauso wenig wie das Schicksal der über 200 israelischen Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden. Auch Sara ist keine Verurteilung der Terrororganisation abzuringen. „Die Leute feiern nicht die Hamas, weil sie Leute umbringt, sondern weil sie der einzige Funken Hoffnung ist, der israelischen Besatzung zu widerstehen“, erklärt sie nur.

„Es sind schreckliche Dinge am 7. Oktober passiert“, sagt ein jüdischer Israeli, der an der Demo teilnimmt und lieber anonym bleiben will, der taz. „Aber das ist gerade nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist das, was Israel in Gaza macht.“ Der 37-Jährige sei erst vor vier Monaten von Tel Aviv nach Berlin gezogen, weil er sich zunehmend entfremdet von seinem Heimatland fühlte. Wie er sind einige jüdische Linke bei dem Protest vertreten. „Es kann keine Sicherheit ohne Freiheit für alle geben“, fordert eine Sprecherin der linken Gruppe Jüdischer Bund in einem Redebeitrag.

Unklar ist allerdings, wie dieser Weg zum Frieden aussehen soll. Nur die trotzkistische Gruppe Abei­ter:­in­nen­macht äußert eine erstaunliche Idee: Erst solle der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Generalstreik aufrufen und sich dann einer globalen Intifada anschließen. Damit könne ein sozialistisches Palästina geschaffen werden, in dem Jü­din­nen*­Ju­den und Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gleichberechtigt leben können.

Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) dankt im Nachgang der Demonstration vor allem der Polizei. Diese habe „maßgeblich zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beigetragen“, sagte Spranger der taz. Sie appellierte „nochmals an alle Menschen, die zu Versammlungen kommen, sich friedlich zu verhalten, sich an die Auflagen zu halten und keine Straftaten zu begehen“. Dass am Samstagabend ein Pyrotechnikwurf in Berlin-Neukölln zwei Beamte und ein Kleinkind verletzte, verurteilte Spranger „auf das Schärfste“.

Die Grüne Mihalic fordert, die Sicherheitsbehörden „gut auszustatten“, um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen. Bund und Länder müssten hier finanzielle Zusagen machen. Auch müssten weitere Organisationen, die den Terror der Hamas unterstützen, verboten werden – etwa das Islamische Zentrum in Hamburg oder die Revolutionsgarden, so Mihalic zur taz. Jörg Kopelke, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, forderte wiederum angesichts des „enormen Kräfteverschleißes“ bei der Polizei keine großen Aufzüge mehr zu erlauben, sondern nur noch stationäre Kundgebungen.

Der Zentralrat der Juden spricht von „antisemitischen, häufig offen islamistischen Aufmärschen“ am Wochenende. Das Samidoun-Verbot sei „wichtig“ gewesen. Nun aber müsse „den weiteren islamistischen Organisationen das Handwerk gelegt werden“. Es sind vor allem die Bilder aus Essen, die nachwirken. Auch bei der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. Dieser Protest stehe „sicherlich nicht für Frieden in Gaza“, erklärt diese. „Sondern für einen Islamismus, den wir Kurden leider nur zu gut kennen.“

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