Länderspiel Deutschland gegen Türkei: Wenn niemand über Fußball spricht

Nach der 2:3-Niederlage der deutschen Herren gegen die Türkei spielt Deutschland mal wieder Integrationsdebatte. Die sorgt für seltsame Bündnisse.

Fußballer Ilkay Guendogan mit Gegenspieler und Ball.

Das große deutschtürkische Integrationsvorbild Ilkay Gündoğan traf das Tor nicht Foto: Teamfoto/imago

Die türkische Fußballnationalmannschaft der Herren hat am Wochenende gegen die deutsche gespielt. Jetzt spielt die deutsche Öffentlichkeit mal wieder Integrationsdebatte. Wie erwartet, spielt dabei das Sportliche kaum eine Rolle („Die Taktik ist zweitrangig, es ist immer erst die Emotion“, Julian Nagelsmann, deutscher Nationaltrainer) und das Ergebnis nur deswegen eine, weil Deutschland verloren hat (2:3) – ausgerechnet gegen die Türkei, ausgerechnet in Berlin („Nicht Kreuzberg ist Deutschland“, Friedrich Merz, CDU-Chef). Zudem haben viele das Wort Freundschaft bei Freundschaftsspiel offenbar komplett überlesen (zehn Festnahmen, „körperliche Auseinandersetzungen“, faschistische Handzeichen).

So haben die Pfiffe derer, die „für die falsche Flagge singen“ (Thomas Müller, deutscher Stürmer) dieses Mal bestimmt mehr „gewurmt“ als noch vor 13 Jahren, als Deutschland im selben Olympiastadion und vor ähnlich rot-weißer Kulisse mit 3:0 siegte. Schon damals galt der Unmut vieler erregter deutschtürkischer Türkei-Fans einem deutschtürkischen Spieler (Mesut Özil, Integrations-Bambi-Gewinner und türkischer Nationalist), der es gewagt hatte, im deutschen Trikot aufzulaufen, obwohl er in Deutschland geboren und aufgewachsen war und die Türkei vor allem als Urlaubsland kannte – und dann auch noch ein Tor schoss.

Dafür bekam er nach dem Spiel noch in der Kabine einen Handschlag von Angela Merkel („Wir schaffen das“) und wurde acht Jahre später medial ausgebürgert, weil er sich mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan („Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) fotografieren ließ und Deutschland nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 in Russland einen Sündenbock brauchte. Dieses Mal traf das große deutschtürkische Integrationsvorbild İlkay Gündoğan („ein sehr besonderes Spiel für mich“) das Tor nicht. Trotzdem darf er sich über deutschdeutschen Rückhalt freuen.

Nicht nur von DFB-Vize Hans-Joachim Watzke („absolut nicht in Ordnung“), sondern auch vom NRW-Landeschef der Jungen Union („eine Linie überschritten“), deren Mutterpartei an anderer Stelle Namenslisten einsehen möchte, weil eine deutsche Staatsbürgerschaft einen noch lange nicht zum Deutschen macht. Auch FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai zeigte sich in der um gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders bemühten Bild-Zeitung betroffen über die Pfiffe („Es muss uns alle schmerzen“).

Zur rechten Zeit

Für die Liberalen kam das aufgebauschte Länderspiel, über dessen wunderschöne Tore niemand spricht, zur genau richtigen Zeit: kurz nach dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dessen katastrophale Konsequenzen auch ein liberaler Finanzminister verantwortet, der glaubt, dass es eine gute Zukunft ohne weiter eskalierende Klimakrise für umme gibt („Die Schuldenbremse hat eine höhere Weisheit“).

Da helfen dann auch wohlmeinende publizistische Stimmen nicht mehr, die behaupten, dass das Pfeifkonzert ja gar nicht böse gemeint sei, weil das Auspfeifen des Gegners wichtiger Bestandteil der türkischen Fankultur sei („Politiker missinterpretiert Pfiffe türkischer Fans“) – ganz so, als ob Zehntausende Fans in Rot-weiß aus der Türkei und nicht aus deutschen Städten angereist wären und deutschdeutsche Fußballfans im Stadion nicht pfeifen, sondern jodeln würden.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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