Israel als Symbol des Bösen: Das projizierte Feindbild

Eine Weltsicht, die die Menschheit in Unterdrücker und Unterdrückte einteilt, bietet keinen Platz für distanzierte Betrachtung. Ein Blick in die USA.

Junge Menschen mit Palästinenser-Tüchern diskutieren miteinander

Propalästinensische Demonstrantinnen in San Francisco am 5. Dezember 2023 Foto: Tayfun Coskun/Anadolu Agency/getty images

Am 27. November trug sich Kurioses im Rathaus der kalifornischen Großstadt Oak­land zu. Über tausend Bürger beteiligten sich – teils vor Ort, teils digital zugeschaltet – an der Stadtratssitzung, als wollten sie unter Beweis stellen, dass die USA nach wie vor eine lebendige Demokratie sind.

Allerdings ging es den Anwesenden nicht um Maßnahmen gegen die seit Jahrzehnten hohe Kriminalitätsrate in ihrer Heimatstadt und auch nicht um das angesichts der exorbitanten Lebenshaltungskosten in der Bay Area so allgegenwärtige Phänomen der Obdachlosigkeit, sondern – um Weltpolitik.

Israel ist für viele von ihnen eine Chiffre für das absolut Böse, das für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wird. Nicht wenige Klassenkämpfer, LGBTQ-Aktivist:innen, Klimaretter und Antirassisten projizieren ihre Probleme auf den jüdischen Staat, als sei dieser der Nabelpunkt der Welt, an dem sich das Schicksal der Menschheit entscheidet.

Konkreter Anlass der Stadtratssitzung war die Diskussion und Abstimmung über einen Resolutionsentwurf, der Israels militärische Reaktion auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober verurteilt und einen dauerhaften Waffenstillstand fordert. Dass so viele Menschen ins Rathaus strömten, war das Ergebnis einer konzertierten Aktion. Die Befürworter der Resolution stellten etwa drei Viertel der Anwesenden.

Hamas und Israel auf einer Stufe

Nach über vier Stunden Diskussion nahm der Stadtrat unter dem Druck der Aktivisten die Resolution einstimmig an. Ratsmitglied Caroll Fife betonte in ihrer Schlussrede, das Statement verurteile „weder die Hamas noch Israel“ und sei ein Versuch der Entpolitisierung.

Was Fife als ausgewogene und überparteiliche Position darstellte, krankte allerdings nicht nur daran, dass damit implizit die islamistische Terrororganisation Hamas mit dem demokratischen Staat Israel auf eine Stufe gestellt wurde, sondern war auch als explizite Weigerung zu verstehen, das größte antisemitische Blutbad seit dem Holocaust zu missbilligen.

Genau das bekräftigten auch viele Aktivisten in ihren Redebeiträgen. Die Forderung, die Verbrechen der Hamas zu verdammen, wurde mehrfach als Zumutung zurückgewiesen. Zwei Aktivisten bezeichneten es gar als „rassistisch“, die Hamas zu kritisieren, eine andere beschimpfte die vereinzelt im Saal anwesenden Resolutionsgegner pauschal als „old white supremacists“. Die Hamas, so hieß es in mehreren Beiträgen, sei gar nicht terroristisch, sondern der „bewaffnete Arm des vereinigten palästinensischen Widerstands“.

Solche Statements waren nur der Beginn einer immer freier drehenden Realitätsverleugnung: Der Massenmord auf dem Musikfestival Supernova sei in Wahrheit von der israelischen Armee selbst verübt worden, Vergewaltigungen habe es nicht gegeben. Israel sei ein siedlerkolonialistischer Apartheidstaat, betreibe ethnische Säuberungen und einen Genozid am palästinensischen Volk.

Kein Platz für distanzierte Betrachtung

Auf die Spitze trieb es eine Rednerin mit der Aussage, es sei „ein Widerspruch, pro Menschheit und pro Israel zu sein“. Nichts könnte besser zum Ausdruck bringen, dass Israel im dichotomen Denken vieler Linker als Projektionsfläche fungiert. In einem Weltbild, das die Menschheit in Unterdrücker und Unterdrückte einteilt, ist kein Platz mehr für eine distanzierte Betrachtung.

Wer zweifelt, wird der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt, die Anerkennung der Realität auf Hirnwäsche durch „zionistische Propaganda“ zurückgeführt. Kritik am Liebesobjekt wird als so verletzend empfunden wie ein physischer Angriff. Nur wer sich vorbehaltlos zum Guten bekenne, stehe nicht auf der Seite des Bösen. Und das Gute, das sei natürlich – Palästina.

Für die realen Palästinenser dagegen interessieren sich viele „Free Palestine“-Aktivisten überhaupt nicht. Schließlich müsste es sonst ihr erstes Interesse sein, die Hamas loszuwerden. In den Wochen und Monaten vor 10/7 sind Palästinenser gegen die korrupte Elendsherrschaft in Gaza auf die Straße gegangen und haben dabei Leib und Leben riskiert.

Ihre vermeintlichen Unterstützer im Westen hat das kaltgelassen. Ihre Leidenschaft entflammt erst, wenn Israel dämonisiert werden kann. Doch auch die realen Israelis sind den Palästina-Aktivisten vollkommen egal. Werden jene gedemütigt, gefoltert, vergewaltigt und massakriert, entlockt ihnen das nicht mehr als ein Achselzucken.

„Kontextualisierung“ ist der neueste Dreh

Wo die antisemitische Gewalt nicht direkt geleugnet wird, wird sie entweder ignoriert oder gerechtfertigt. „Kontextualisierung“ lautet der neueste Dreh, von der Philosophin Judith Butler exemplarisch vorgeführt und von ihren Anhängern beflissen nachgeahmt. Zum Kontext gehört ihnen freilich immer nur das, was sich der eigenen Weltanschauung einfügt. Die genozidale Agenda der Hamas? Fehlanzeige. Die exterminatorischen Bestrebungen des iranischen Regimes? Irrelevant. Das Einzige, was zählt, sind „Fakten“, die Israel verteufeln.

Selbstverständlich ist die Forderung nach einem Waffenstillstand für sich betrachtet legitim, wenn auch militärisch kurzsichtig und politisch unrealistisch. Und wer verstünde nicht den moralischen Impuls, angesichts des Blutvergießens auf einen Frieden zu drängen? Doch der Frieden, der da herbeigeschrien wird, ist einer ohne jüdischen Staat, und – wie der 7. Oktober gezeigt hat – auch einer ohne Juden. „Palästina“ fungiert als Symbol der ewigen Unschuld, „Israel“ als Inbegriff des Bösen. „From the river to the sea“ bedeutet Erlösung vom Zionismus.

Das hat eine eschatologische Dimension. Nur so lässt sich erklären, warum weltweit Millionen Menschen gegen Israel auf die Straße gehen, aber nach den hunderttausenden Opfern des Bürgerkriegs in Syrien kein Hahn kräht. Dass ausgerechnet der jüdische Staat als ultimatives Feindbild fungiert, ist kein Zufall. Zum einen reicht die Tradition, die Juden zu Antipoden der Menschheit zu erklären, bis in die Antike zurück; schon Tacitus war der Auffassung, die Bräuche der Juden stünden „im Gegensatz zu denen aller anderen Menschen“.

Die lange Geschichte dieses Antijudaismus erhellt, warum sich alle Probleme der Menschheit so leicht auf Israel schieben lassen. Dass der auf Demonstrationen skandierte Slogan „Kindermörder Israel“ an älteste Ritualmordmythen anschließt, ist ein Beleg für die ungebrochene Kraft archaischer Stereotype.

Israelhass und Antisemitismus

Zum anderen ist der Israelhass aber auch eine hochmoderne Form des Post-Holocaust-Antisemitismus. Anfang Dezember twitterte die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, ganz in diesem Sinne: „Liebe Europäer, Italiener, Deutsche: nach dem Holocaust sollten wir instinktiv wissen, dass Völkermord mit der Entmenschlichung des Anderen beginnt. Wenn Israels aktueller Angriff auf die Palästinenser nicht unsere starke Reaktion hervorruft, hat uns die dunkelste Seite unserer jüngsten Geschichte nichts gelehrt.“

Die Lehre aus dem Holocaust sei somit, einen vermeintlich drohenden Holocaust an den Palästinensern zu verhindern. Das schlechte Gewissen der westlichen Welt, nicht nur im Hinblick auf die Schoah, kann in dieser Sicht somit durch das Engagement „für Palästina“ gebannt werden. Der Aktivismus gegen Israel verspricht Absolution.

Der Autor ist DAAD-Professor für Geschichte an der University of California in Berkeley.

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