Soziologe über Niedergang der Kirchen: „Vielleicht gibt es Gott ja doch“

Detlef Pollack ist Religionssoziologe. Den Niedergang der Kirchen betrachtet er mit Wehmut. Dabei ist er selbst nicht gläubig.

Porträt von Detlef Pollack, er steht mit verschränkten Armen in einem Hinterhof

Bei seinen Kindern ist er mit der Glaubenserziehung „total gescheitert“: Detlef Pollack in Berlin Foto: Stefanie Loos

Er war unser Gast im taz-Kirchentagsstudio im Juni in Nürnberg, wir verabredeten uns damals für ein weiteres Gespräch in der Adventszeit: Detlef Pollack, aufgewachsen in der DDR, ist Religions- und Kultursoziologe, er war Professor in einem Exzellenzcluster an der Universität Münster. Wir treffen uns in der taz-Kantine in Berlin, er kommt mit dem Fahrrad, wir trinken Tee und Kaffee.

wochentaz: Herr Pollack, wir sind in der Adventszeit, bald ist Weihnachten – und Sie diagnostizieren den Niedergang der Religion. Leben wir in einem gottlosen Land?

Detlef Pollack: Jeder, der halbwegs in unserem Alter ist, erlebt es, die Zahlen, die wir kennen, bestätigen es: Der Glaube an Gott, den christlichen, ist in den letzten 60, 70 Jahren dramatisch zurückgegangen.

An ein höheres Wesen …

… glauben mehr Menschen als an einen Gott, wie er in der Bibel verkündet wird.

War denn der Glaube früher wirklich stärker?

Das Christentum hat über Hunderte von Jahren versucht, den Glauben zu internalisieren – mit Gebetsbüchern, mit Ritualen, mit Kirchengeläut, mit Schuldbekenntnissen, mit Buße und Sühne und so vielem mehr. Die biblischen Geschichten haben die Menschen in ihrem Herzen ergriffen.

Kurios: Eine Ergriffenheit unter Zwang?

Auch wenn zweifellos Druck mit im Spiel war, wirkten die biblischen Botschaften. Manche Theologen sagen, früher mussten, heute können die Menschen glauben. Ich würde das nicht in so einen krassen Gegensatz packen.

In Umfragen geben viele an, sie wähnten eine Kraft über sich, die sie stärkt. Können Sie mit diesem Gedanken etwas anfangen?

Sehr viel. Keine Religion lässt sich ohne diese Erwartung verstehen: dass eine höhere Macht dem Menschen eine Kraft gibt, mit deren Hilfe er mit schweren Lebenssituationen fertig wird, über sich hinauswächst, Hoffnung fasst. Religion ist kein philosophisches Lehrgebäude, an dessen Inhalte man glauben muss, sondern hat etwas zu tun mit den Grundfragen unseres Lebens. Mit unserem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, auch mit unserer Fehlbarkeit und dass wir unser Leben nicht in der Hand haben.

Das klingt wie eine Skizze der Sehnsucht.

Ja, so ließe sich das formulieren. Denn jeder Mensch sehnt, jeder Mensch will als jemand gesehen werden, der einzigartig ist, möchte geliebt sein. Religionen liefern diesen Stoff.

Nichtreligiöse sagen: Der Sinn des Lebens ist nur das Leben selbst.

Viele, sehr viele Menschen hegen trotzdem die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort sein möge. Wir alle können uns, wenn überhaupt, schwer damit abfinden, dass nach dem Sterben das Nichts sein könnte.

Glauben Sie an Gott?

Nein.

Und weshalb studierten Sie, noch Bürger der DDR, Theologie?

Das war für mich die Möglichkeit schlechthin, aus den indoktrinierenden Ideen des realen Sozialismus auszusteigen. Der Marxismus hat mich als Geisteshaltung nie überzeugt, schon gar nicht der, der in der DDR gepredigt wurde. Dass ich mit meinem Studium der Theologie die große Tradition des abendländischen Denkens kennenlernen durfte, war ein intellektuelles Glück – mit dem ich kaum gerechnet hatte.

Was sprach dagegen, dass auch Sie zum Glauben finden?

So vieles. Zum Beispiel: Warum sollte gerade hier, wo ich geboren wurde, die Wahrheit erschienen sein? In Indien hätte ich den christlichen Gott wahrscheinlich gar nicht kennengelernt. Ich würde heute sagen, dass ich keine Erfahrungen machen konnte mit Gott. Ich habe auf sie gewartet, aber sie stellten sich nicht ein.

Aber Sie sind doch der christlichen Kultur ziemlich nah, oder?

Das ist ja aber was anderes. Wenn ich den Thomanerchor in Leipzig höre, wenn die Knaben die Passionen von Johann Sebastian Bach singen, dann bin ich ergriffen. So war es immer und so ist es noch. Auch wie hoheitsvoll Jesus in den Passionen dargestellt wird, wie er den Spott und Hohn seiner Peiniger wortlos erträgt, oder wenn Pilatus, der ihn verurteilen wird, ruft: Seht, welch ein Mensch! Das hat mich bewegt, aber zum Glauben geführt hat es mich nicht.

Ihre Familie …

… war auch nicht christlich. Die Musik war wichtig in unserer Familie, aber nicht der Glaube.

Ostprägung

Detlef Pollack wurde 1955 in Weimar geboren. Er studierte Theologie in Leipzig, wo er auch promovierte. In seiner Habilitation beschäftigte er sich mit der gesellschaftlichen Lage der Evangelischen Kirche in der DDR.

Religionsforschung

Pollack zählt zu den wichtigsten Soziologen zur Erforschung von Kirchen, Glaubensformen und der Säkularisierung moderner Gesellschaften wie der deutschen. Nach Professuren in Leipzig, Frankfurt (Oder) und New York arbeitete er bis zum Mai 2023 an der Universität Münster im Exzellenzcluster Religion und Politik. Seine Abschiedsvorlesung unter dem Titel „Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“ gilt als Glanzstück säkularen Denkens.

Heute

Detlef Pollack lebt in Berlin und ist mit der Historikerin Hedwig Richter verheiratet.

Sie sind mit einer sehr christlich orientierten Frau verheiratet. Beten Sie bei Tisch?

Nie haben wir gebetet, aber wenn die Kinder aus meiner ersten Ehe da sind, dann haben wir so einen Spruch, mit dem wir das Essen beginnen. Die Kinder sind auch nicht gläubig, ich bin mit meiner Glaubenserziehung total gescheitert. Ich habe vieles probiert mit ihnen, habe die Bibel mit ihnen gelesen, ihnen erklärt, was es bedeutet, wenn Jesus Petrus auffordert, übers Wasser zu gehen, ich wollte ihr Einverständnis, sich taufen zu lassen.

Und?

Eine Zeit lang sah es so aus, als ob sie sich darauf einlassen, aber dann sagten sie: Man weiß es nicht. Darauf haben wir uns dann geeinigt: Man weiß es nicht. Ich wollte so die Tür offen halten für Gott. Man kann es halt nicht wissen. Vielleicht gibt es ihn ja doch.

Die Säkularisierung der Gesellschaft ist schnell fortgeschritten, bis in die privaten Lebensverhältnisse hinein. Noch in den sechziger Jahren schien alles für die beiden Amtskirchen in trockenen Tüchern.

Damals lagen die Kirchenaustrittsraten auf einem historisch niedrigen Stand. Die Kirchen waren eingebunden in den antitotalitären Grundkonsens der ökonomisch wachsenden und sich demokratisch stabilisierenden Bundesrepublik. Ihr Wort besaß politische Relevanz. In weiten Teilen war das soziale Leben christlich durchtränkt.

Und was hat sich geändert?

Als Soziologe lautet mein Befund wie auch der vieler Kollegen: Es kam zu einer funktionalen Differenzierung der Lebensbereiche. Es wuchs der Massenwohlstand, die Öffentlichkeit politisierte sich, die staatliche Herrschaft griff nicht mehr auf christliche Formeln zurück, immer mehr Ehen wurden ohne den Segen Gottes geschlossen. Man lernte: Es gibt Lebensbereiche, in denen es nicht auf Religion ankommt. Man kann zwar persönlich am Glauben festhalten, aber die Gesellschaft kommt auch ohne ihn aus.

Die Menschen …

… lernten, dass sie ihr Leben selbst gestalten können, dass sie nicht mehr von einem Gott abhängig sind, der das letzte Wort spricht. Gott und Individuum gerieten in ein Spannungsverhältnis, das war neu.

So begann ja in den späten Sechzigern die Zeit der Selbstverwirklichung.

Könnte man so sagen, ja. Man stellte fest: Es bedarf des Glaubens nicht. Mit Freunden zu sprechen, einander Kraft zu geben, ins Theater zu gehen, in ein Konzert, zu einer Lesung: Das alles ist auch ohne Religion möglich, ja, es macht vielleicht sogar mehr Spaß als im Gottesdienst zu sitzen und sich eine Predigt anzuhören. Die vielen Verwirklichungsmöglichkeiten, die unsere Gesellschaft in der Freizeit, aber auch im Beruf bietet, ziehen von der Konzentration auf das Wort Gottes ab.

Trotzdem glauben ja immerhin noch viele Menschen.

Ja, in Deutschland etwa die Hälfte der Menschen. 30 Prozent bekennen sich zum Glauben an ein höheres Wesen, 20 Prozent zu einem Gott, wie er sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. Aber dieser Glaube, selbst wo man sich an ihn hält, durchdringt nicht mehr das ganze Leben, und zwar umso weniger, je weniger konkret man sich Gott vorstellt. So ein höheres Wesen, das man nicht genau beschreiben und mit dem man nicht kommunizieren kann, hat auch nur wenig Einfluss auf die Art, wie man seine Kinder erzieht. Je persönlicher der Gott, an den man glaubt, desto bedeutsamer ist er im eigenen Leben, das zeigen empirische Untersuchungen. Immer mehr Menschen aber fällt es schwer, sich Gott als Person vorzustellen.

Sie klingen melancholisch, wenn Sie über die Einbußen an allgemeiner Religiosität sprechen.

Über mein Studium bin ich in die traditionsreiche Welt des Christentums hineingelangt. Es ist eine schöne und große Welt. Aktuell spüre ich, wie das Verständnis für diese Welt immer mehr abnimmt, wie stark schon die Fähigkeit zurückgeht, sich sprachlich in dieser Welt zu bewegen. Es ist bedrückend zu sehen, mit welcher Herzlosigkeit man teilweise auf dieses Erbe schaut.

Dafür stehen Missbräuche, sexuelle oder die der Macht, im Mittelpunkt der öffentlichen Erörterungen.

Darüber ist zu reden, ja, und darüber muss geredet werden. Aber Kirche geht in den Missbrauchsfällen nicht auf. In ihr kann man lernen, auf neue Weise, auf eine nicht alltägliche Weise auf das Leben zu schauen. Sie eröffnet Horizonte, gibt Trost und Hoffnung, vermittelt einen Weg, auch mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen zu lernen, oder auch einfach einmal loszulassen. Die Kirchen tragen einen reichen Schatz an Lebensweisheiten und Lebenserfahrungen in sich. Sie sind mehr als Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, die ich damit nicht kleinreden will.

Nicht mal mehr die Hälfte der in Deutschland Lebenden ist Mitglied einer großen Kirche. Ist dieser Prozess umkehrbar?

Das sehe ich nicht. Die Kirchen sind zwar, weil die Kirchensteuer an die Einkommen gekoppelt ist, finanziell immer noch gut gepolstert, vieles wird geleistet, in der Caritas, auch in der Bildungsarbeit. Aber wenn der Glaube mehr und mehr zurückgeht und auch das soziale Umfeld schrumpft, in dem er gedeihen kann, dann schreitet der Prozess der Entkirchlichung immer weiter voran. Zwar langsam, aber unaufhaltsam.

Wo führt das hin? Wie sieht eine Gesellschaft ohne Kirche aus?

Eine Gesellschaft ohne Kirche ist ärmer. Es fehlt die katholische Messe mit dem Einzug des Priesters im Ornat, mit Messdienern, Weihrauch und rauschendem Orgelklang. Die schlichte Anmut eines Kirchenraums der Reformierten. Die aufopferungsvolle Strenge der Diakonissen. Das Gebet im stillen Kämmerlein. Und auch der erbarmungsvolle Blick auf unser armseliges Leben. Das und noch viel mehr.

Bücher von Pilgerfahrten, etwa das von TV-Star Hape Kerkeling, sind Bestseller. Spricht das nicht gegen Ihren Befund?

Natürlich ist eine Pilgerreise auch eine Geschichte auf den gläubigen Pfaden. Zweifellos, bestimmte Praktiken lassen sich aus den religiösen Kontexten lösen – bis hin zu Yogaübungen. Aber die Bedeutung dieser Praktiken ändert sich dabei. Jetzt geht es um körperliche Kräftigung oder um eine Wanderung der Seele nach innen oder um Abenteuer zu erleben. Die große Tradition der Pilgerfahrten, mit denen man die Nähe zum Heiligen suchte, um für seine Leiden Heilung zu finden, ist nicht mehr präsent.

Bald ist Weihnachten. In vielen muslimisch geprägten Familien gibt es auch gewisse Adaptionen dieses Familienfestes, weil die Kinder auch Geschenklisten schreiben. Auch sie feiern Weihnachten.

„Sehr viele Menschen hegen die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort sein möge. Wir alle können uns, wenn überhaupt, schwer damit abfinden, dass nach dem Sterben das Nichts sein könnte“

Das ist eine schöne Sache: Kinder zu beschenken. Aber Weihnachten in einem christlichen Sinne meint, dass Gott Mensch geworden ist. Versteht das noch einer?

Nicht erst neuerdings wird von Kindern Halloween gefeiert. Findet dieses Ereignis Ihr Wohlwollen?

Auch wenn ich nicht gläubig bin, so bin ich doch Kirchenchrist. Und hier bin ich ganz Protestant: Nein! Das ist heidnisch. Das ist bestimmt wunderbar für Kinder, von Tür zu Tür zu gehen und Süßigkeiten zu erhalten.

Immerhin ist es konfessionsübergreifend.

Klar, es kommt als junge Tradition aus den USA, dort gibt es viele Glaubensrichtungen, die gemeinsam leben.

Wie bei uns ja inzwischen auch.

Ich plädiere dennoch für die Feier des Reformationsfestes am 31. Oktober oder für das Martinssingen am 11. November.

Das sind christliche Daten, die man nichtgläubigen oder nichtchristlich glaubenden Menschen nur schwer vermitteln kann.

Es sind Gelegenheiten, sich der Traditionen zu erinnern, die unsere Kultur geprägt haben – wichtig gerade bei Kindern.

Wie werden Sie Weihnachten verbringen?

Wir gehen immer in den Berliner Dom auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte, zusammen mit den ungläubigen Kindern. Die kommen dann einfach mit. Dann singt der Domchor, dann hat man eine wunderbare Predigt, man hört die Weihnachtsgeschichte, die man kennt…

… eine Tradition – das Immergleiche zu hören, nicht wahr?

Wann, wenn nicht bei diesem Gottesdienst zu Weihnachten? Das ist ein wichtiger Punkt: diese Wiedererkennungseffekte; es beruhigt und vergewissert einen, dass nicht alles aus den Fugen gerät.

Als Sie, schon lang nicht mehr jung, Ihre zweite Frau kennenlernten, mit der Sie inzwischen verheiratet sind: War das nicht auch ein Flash, religiös gesprochen – ein Moment der Offenbarung?

Da spreche ich nur für mich. Ja, ich hätte nichts dagegen, das so zu bezeichnen.

Dass Ihnen das widerfahren ist?

Ich bin dankbar, ja. Es war wie ein Wunder.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.