Nach der Correctiv-Recherche: Der neue Vibe gegen rechts

Die Abschiebefantasien machen wieder mal fassungslos. Drei Gefühle grassieren vor allem unter Migras und ihren Nachfahren: Ohnmacht, Wut und Mut.

Zahlreiche Menschen nehmen vor dem Bundestag mit Plakaten an der Demonstration eines Bündnisses „Wir sind die Brandmauer“ für Demokratie und gegen Rechtsextremismus teil

Die Großdemo am 3. Februar vor dem Bundestag Foto: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa

Ohnmacht, Wut und Mut – das sind die drei Schlüsselbegriffe dieser Tage. Darum drehte sich jedenfalls neulich das Gespräch mit einer befreundeten deutsch-türkischen Kollegin. Anlass waren die Ergebnisse der Correctiv-Recherche vom 10. Januar. Drei Gefühle, die derzeit vor allem unter Migras und ihren Nachfahren grassieren.

Wir sprachen darüber, dass in unserem Umfeld Mütter und Väter berichteten, wie sie von ihren Kindern fassungslos darauf angesprochen würden, ob man sie demnächst aus Deutschland vertreiben werde. Viele der Eltern erzählten das mit einem Kloß im Hals, andere, eben noch gefasst, fingen zu schluchzen oder weinen an. Ohnmacht.

Erlebnisse dieser Art häufen sich in meinem Umfeld. Für die meisten, die Eltern im mittleren Alter, also Angehörige meiner Generation sind, kommen die Ergebnisse der Recherche nicht überraschend. Offenkundig entfachen sie aber eine andere Wucht als vorangegangene Enthüllungen. Gar nicht mal zuerst in unserer Altersgruppe.

Für die Jüngeren könnte das der prägende Moment ihrer Coming-of-Age-Phase sein

Besonders heftig haut es allem Anschein nach Teenager und junge Erwachsene in den Zwanzigern um. Also große Teile der Generation Z. Für die Jüngeren unter ihnen könnte das der prägende Moment ihrer Coming-of-Age-Phase sein. Für die Älteren knüpft es emotional an die Fassungslosigkeit nach dem Anschlag von Hanau an: In der parteipolitischen Mitte kullern abrissbirnengroße Krokodilstränen, ohne jede Selbstreflexion bezüglich des eigenen Anteils am rechtsextremen Abfuck.

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Zunehmende Ängste

Am Sonntag nach den Enthüllungen sprach auf der Großdemo am Brandenburger Tor die 22-jährige Sängerin Paula Hartmann. Sie erzählte von einem Treffen mit ihrem befreundeten Kollegen Arda, Mitte zwanzig, bekannt als der Moabiter Rapper Apsilon sowie dessen jüngeren Bruder Arman; den Familiennamen meiden sie in der Öffentlichkeit. Ihre Großeltern kamen als sogenannte Gastarbeiter.

Paula sagte direkt zu Beginn ihrer Rede, so etwas habe sie noch nie gemacht. Aber zwei prägnante Äußerungen der beiden Jungs hätten sie dazu bewogen, ihre große Nervosität zu überwinden und auf der Demo zu sprechen. Mut.

Sie hätten sich über die aktuellen Geschehnisse und zunehmenden Ängste unterhalten. Arman habe gesagt, es sei ein komisches Gefühl, dass ein Drittel des Landes ihn nicht hier haben wolle. Apsilons Erwiderung: Ob es denn nicht mehr sei als ein Drittel.

Am 3. Februar, dem Tag der noch größeren Großdemo vor dem Bundestag, trat Apsilon dann selbst auf. Den jubelnden Massen rief er zu: „Ich hab bisschen Wut mitgebracht, habt ihr auch Wut mitgebracht?“ und rappte dann los: … mag mein Çay dunkelbraun/ So wie Deutschland sein Bundestag ein Tag aus/ Muss hier raus/ Lehn mich zu weit aus dem Fenster/ Und spuck das raus, was sich in meiner Brust anstaut …

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Sollen wir gehen?

Sein anschließendes Statement kam ähnlich tight daher: „Auch wenn der Bundeskanzler auf dem Spiegel-Cover sagt: ‚Wir müssen im großen Stil abschieben‘, fragen wir uns, sollen wir gehn? Auch wenn die FDP einen Höchstanteil an Migranten pro Stadtbezirk fordert, fragen wir uns, solln wir gehn? Auch wenn eine Bundesregierung, in der auch die Grünen sind, 100 Milliarden für die Bundeswehr lockermacht, aber dann in den Schulen in Neukölln gespart wird, fragen wir uns, solln wir gehn? Und wenn Polizisten regelmäßig Hakenkreuze in Chatgruppen schicken und der Anschlag von Halle nicht mal fünf Jahre her ist, aber auf einmal die Ausländer die einzigen Antisemiten sind in Deutschland, fragen wir uns, solln wir gehn?“

Natürlich schmetterte ihm die Masse nach jedem „Solln wir gehn?“ ein fettes „Nein!“ entgegen. Ich finde, mit diesem Vibe killen die Jungen die Ohnmacht der Alten.

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Jahrgang 1976, Südhang Hindukusch. Berliner Junge. Schon als Kind im Widerstand gegen Exoten-Bonus und Kanaken-Malus. Heute als Autor und Producer zu unterschiedlichen Themenfeldern journalistisch tätig. Für TV, Print, Online und Bühne. Und fast immer politisch.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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