Soziologe über Wahlen und Geschlecht: „Junge Männer fallen zurück“

Die „Financial Times“ berichtet, dass das Wahlverhalten je nach Geschlecht anders ausfällt. Der Soziologe Ansgar Hudde erklärt die Spaltung.

Wähler und Wählerin in Wahlkabinen. Eine Person hat ihren Hund, einen Mops, mit dabei. Der steht unter dem Tisch neben den Beinen.

Bundestagswahl 2021 in Potsdam: Was wohl der Hund gewählt hat? Foto: Florian Gärtner/photothek/imago

taz: Eine Datenauswertung der Financial Times besagt, dass in mehreren Ländern junge Frauen zunehmend linker und junge Männer rechter wählen. Sie haben sich das Wahlverhalten seit der Bundestagswahl 1953 angeschaut. Kommen Sie zum gleichen Ergebnis, Herr Hudde?

Ansgar Hudde: Im Großen und Ganzen: Ja. Junge Wählerinnen und Wähler waren noch nie so weit auseinander wie bei den Bundestagswahlen 2021. Junge Frauen tendieren vor allem zu den Grünen und junge Männer zur FDP. Die AfD war bei der Bundestagswahl 2021 noch vergleichsweise unbedeutend in dieser Altersgruppe, aber bei den jungen Männern etwas beliebter als bei den jungen Frauen. Tatsächlich sehen wir den Gendergap in allen Altersgruppen, aber bei den 18- bis 24-Jährigen ist er am größten. In der Gruppe 60+ sind die Unterschiede am geringsten. Der Financial Times-Beitrag ist mit dem Fokus auf die Gruppe der Unter-30-Jährigen also etwas einseitig, zumindest was Deutschland betrifft.

Wie erklären Sie sich die zunehmende Spaltung zwischen den jungen Wähler_innen?

lehrt und forscht am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln. Er beschäftigt sich mit Themen rund um Familie und Partnerschaft, Nachhaltigkeit und Mobilitätsverhalten, sowie politische Einstellungen und Wahlverhalten.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Geschlechterverhältnisse massiv gewandelt. Im Bildungssystem zeigt sich das besonders: Mädchen und Frauen erzielen in Deutschland und in vergleichbaren Ländern höhere Abschlüsse. Junge Männer fallen zurück. Bei manchen typisch männlichen Industrieberufen kam es zu einem Rückgang der gesellschaftlichen Anerkennung. Insbesondere die sozioökonomisch weniger privilegierten und nicht akademisch gebildeten Männer können sich dann abgewertet fühlen. Ein wichtiges Symptom von einer solchen Abwertung und den Veränderungen im Bildungsbereich zeigt sich auf dem Partnermarkt: In einer Auswertung zeigen Henriette Engelhardt-Wölfler und ich, dass Männer mit niedrigerer formaler Bildung immer häufiger Singles bleiben.

Woran liegt das?

Es gibt, relativ gesehen, zu wenige hochgebildete Männer und zu viele hochgebildete Frauen. Onlinedatingstudien zeigen, dass hochgebildete Frauen wenig Interesse an Männern mit niedrigerer Bildung zeigen. Traditionell war es so auch, dass Männer tendenziell lieber Frauen daten, die gleich oder weniger gebildet sind. Allerdings haben höher gebildete Frauen für Männer an Attraktivität gewonnen. Denn in einer Zeit, in der Frauen genauso erwerbstätig sind, ist es gut, wenn die Partnerin hochgebildet ist und viel Geld nach Hause bringt.

Männer profitieren also von der zunehmenden Gleichstellung der Frauen?

Ja, aber das nehmen nicht alle so wahr. Wenn alte Privilegien wegfallen oder alte Ungleichheiten ausgeglichen werden, kann man das als Verlust erleben. In einer Studie mit Daten aus 27 EU-Ländern stimmten vor allem junge Männer zwischen 18 und 29 Jahren der Aussage zu, die Förderung der Rechte von Frauen und Mädchen sei zu weit gegangen, weil sie die Chancen von Männern und Jungen gefährde. In der Summe also scheint es einige Männer zu geben, die sich nicht gerade zu den Gewinnern der Entwicklungen zählen. Die sind dann eher erreichbar für Parteien, die den Fokus woanders setzen, wie die FDP, oder in die nostalgische Antihaltung gehen wie die AfD.

Und warum wählen immer mehr Frauen linke Parteien?

Die eine, ideal passende Erklärung habe ich dafür nicht. Was auffällt: Frauen wählen seit 2017 eher Linke, Grüne und SPD, also Parteien, die sich besonders für Gleichstellung und Feminismus stark machen.

Und davor?

Bis Ende der 60er-Jahre haben Frauen konservativer gewählt als Männer und bis einschließlich 2013 haben sie ähnlich gewählt. Themen rund um Gleichstellung sind für Frauen heute wahrscheinlich wahlentscheidender, obwohl sie vermutlich weniger Diskriminierungserfahrungen machen als früher.

In anderen Ländern gab es den Gendergap im Wahlverhalten schon früher. Wieso kam die Spaltung in Deutschland später?

Eine Teilerklärung ist der AfD-Aufstieg. In vielen anderen Ländern existierten bereits vorher Parteien, die rechtspopulistisch oder rechtsradikal sind, aber nicht derart extrem und stigmatisiert wie etwa die NPD. Die AfD war die erste rechtspopulistische Partei in Deutschland, die zumindest in den Anfangsjahren nicht generell als extremistisch angesehen wurde. Jetzt, wo die AfD teilweise etabliert ist, ist eine Einschätzung von Landesverbänden als ­„gesichert rechtsex­trem“ für manche nicht mehr so abschreckend. Wiederum eine Teilerklärung könnte die Stärke von Angela Merkel sein. Insbesondere 2013 war sie, und damit die Union, einfach extrem stark. Merkel war bei Frauen und Männern gleichermaßen beliebt. Dadurch hatten die Parteien mit der größeren Geschlechterdifferenz in der Wählerschaft – Grüne, FDP und AfD – insgesamt eine geringere Rolle gespielt.

Die AfD hat hohe Umfragewerte. Wird sich die Entwicklung also noch weiter verschärfen?

Die Gesamtsituation deutet darauf hin, dass der Gap nicht verschwinden wird, sondern eher ein längerfristiges Phänomen ist. In vielen westlichen Demokratien sehen wir einen ähnlichen Trend. Der Gendergap ist also eher das Ergebnis großer gesellschaftlicher Entwicklungen und nicht nur eine kurzfristige Folge der Tagespolitik.

Hängt der Erfolg der AfD also künftig vor allem von den jungen Männern ab?

Wir müssen generell aufpassen, dass wir ein differenziertes Bild der jungen Männer zeichnen. Ja, sie wählen häufiger AfD als junge Frauen. Aber: In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen waren es bei der letzten Bundestagswahl 7,7 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen. Die Unterschiede sind also auch nicht riesig. Und: 92 Prozent der jungen Männer haben nicht die AfD gewählt. Der Erfolg oder Misserfolg dieser Partei hängt von allen Geschlechter- und Altersgruppen ab. Mittelgroß kann die AfD auch sein, wenn es in der Wählerschaft beim aktuellen Männerüberschuss bleibt. Wirklich groß kann die Partei aber nur werden, wenn sie auch bei Frauen stärker wird.

Gab es lokale Unterschiede?

Grob gesagt kamen bei der letzten Landtagswahl in Hamburg auf zehn AfD-Männer vier AfD-Frauen. Und in Sachsen kamen auf zehn AfD-Männer schon sechs AfD-Frauen. Tendenziell gilt: Dort, wo die AfD besonders stark ist, sind auch mehr Frauen dabei. Falls also die Wahl der AfD normalisiert und die Partei insgesamt stärker wird, gleichen sich die Geschlechterunterschiede vielleicht an.

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