Evaluation des Afghanistan-Engagements: Eine Chronologie des Scheiterns

Erst nach dem Abzug wird der Afghanistan-Einsatz systematisch ausgewertet. Der Zwischenbericht der Enquetekommission des Bundestags ist vernichtend.

Eine Frau, die eine Burka trägt steht einer Menschenmenge und patrouiliienden afghanischen Polizisten

Der Anfang: 2002 beobachtete diese Frau in Kabul die erste gemeinsame Patrouille deutscher Soldaten und afghanischer Polizisten Foto: Thomas Grabka/laif

BERLIN taz | Das Dokument umfasst 338 Seiten, und sonderlich schonend fallen sie nicht aus: Die Enquetekommission des Bundestags zum deutschen Afghanistan-Engagement hat ihren Zwischenbericht fertiggestellt; am Montag wurde er der Öffentlichkeit präsentiert.

Seit anderthalb Jahren berät das Gremium – bestehend aus Abgeordneten aller Fraktionen und externen Sachverständigen – über die Erfahrungen aus 20 Jahren Bundeswehreinsatz, Polizeiausbildung und Entwicklungszusammenarbeit am Hindukusch.

Das Zwischenfazit der Kommission verzeichnet zwar einzelne positive Befunde. So sei die „Intention der Staatengemeinschaft“ richtig gewesen, Afghanistan wiederaufzubauen und dadurch dem Terror vorzubeugen. Gerade zu Beginn habe es auch „partiell Fortschritte in der Infrastruktur und im Gesundheits- und Bildungswesen“ gegeben. Überwiegend liefert der Bericht aber eine Chronologie des Scheiterns.

So bescheinigt die Enquetekommission dem westlichen Wirken in Afghanistan ein grundsätzliches Defizit: „Landeskenntnis, historisch-kulturelles Konfliktverständnis oder eine vertiefte Wahrnehmung oder gar Erkundung des Gastlandes, seiner Gesellschaft und Partner war nicht vorhanden.“ An deutschen Universitäten hätte es dieses Wissen zwar gegeben, von der Politik sei es aber nicht abgerufen worden.

„Selbstgerechte Hybris“

Damit einhergehend waren die Ziele zu Beginn der nuller Jahre unrealistisch hoch gesetzt. Die Kommission zitiert Michael Steiner, den außenpolitischen Berater des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, der sich in einer Befragung durch das Gremium selbstkritisch zeigte. „Der Grundfehler war die Illusion, und ich würde sogar sagen, die selbstgerechte Hybris, man könne von außen in Afghanistan in kurzer Zeit den Grundstein für eine demokratische Gesellschaft nach unseren westlichen Vorstellungen legen“, sagte er.

Als Beispiel für die Folgen nennt der Bericht das Regierungsmodell, das das westliche Bündnis nach der Eroberung Kabuls für Afghanistan vorgesehen hatte. Der neue Staat war zentral organisiert, an seiner Spitze stand ein mit vielen Rechten ausgestatteter Präsident nach US-amerikanischem Vorbild.

Eine Abweichung von den „tief verwurzelten afghanischen Interessen und Herrschaftspraktiken“, so die Enquetekommission. Den großen regionalen Unterschieden im Land und der Bedeutung von „Familien, Stämmen, ethnischen oder religiösen Gruppen“ hätte man stärker Rechnung tragen müssen.

Rechtzeitig aufgefallen seien diese und andere Fehler fatalerweise nicht. Evaluationen wie die durch die Enquetekommission fanden vor dem Abzug aus Kabul im Jahr 2021 nicht statt. Wenn doch Mahnungen der Protagonisten vor Ort nach Berlin gelangten, seien diese in der Politik oft nicht gehört worden.

Nicht mal klare Ziele

Voraussetzung für eine ordentliche Evaluation wären aber klare und überprüfbare Ziele gewesen – und die gab es nach Überzeugung der Kommission ebenfalls nicht. Zwischen den beteiligten deutschen Ministerien seien die Prioritäten auseinandergegangen, eine ordentliche Koordination habe auch gefehlt. International sei es nicht besser gewesen, auch mit den Bündnispartnern habe man nicht an einem Strang gezogen.

Relativ einig war sich der Großteil der Abgeordneten in dieser Analyse. Die Zusammenarbeit zwischen den demokratischen Fraktionen sei sehr gut gewesen, heißt es aus dem Gremium. Lediglich die AfD hat durch mehrere sogenannte Sondervoten innerhalb des Zwischenberichts grundlegenden Dissens hinterlegt.

Zwischen den übrigen Mitgliedern der Kommission gab es Konflikte dagegen nur punktuell. So hat sich mehrheitlich die Analyse durchgesetzt, die Anti-Terror-Mission Operation Enduring Freedom habe in der Bevölkerung teilweise „Hass und Gewalt geschürt“ und so die Ziele der gleichzeitig stattfindenden Stabilisierungsmission Isaf sabotiert. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala und zwei Militärs, alle drei als Sachverständige Teil der Kommission, widersprechen in einem Sondervotum: Für diese Behauptung fehle die Evidenz.

Bis ins nächste Frühjahr und damit etwa ein halbes Jahr länger als geplant will die Kommission nun noch weiterarbeiten. Mit der Fehleranalyse ist das Gremium zwar durch, im nächsten Schritt sind aber noch Handlungsanweisungen und Lehren für künftige Einsätze zu erarbeiten. Durch die veränderte geopolitische Lage steht ein Einsatz wie in Afghanistan zwar wohl nicht unmittelbar wieder an. Die Grünen-Abgeordnete ­Schahina Gambir sagt aber: „Wir wissen nicht, wie die geopolitische Lage in 10 oder 15 Jahren aussieht.“ Statt Konflikten hinterherzulaufen, müssten für die Zukunft Strategien bereit­stehen.

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