Raphael Thelen über Aktivismus: „Es lohnt sich, groß zu träumen“

Als Journalist schrieb Raphael Thelen über Klima und war gut im Geschäft. 2023 entschied er sich dafür, Vollzeitaktivist der Letzten Generation zu werden.

Raphael Thelen mit weiteren Menschen auf der Straße

„Alle, die das mit der Klimakrise verstehen wollten, haben es verstanden“: Raphael Thelen Foto: Karl-Ludwig Reuter

wochentaz: Herr Thelen, vor einem Jahr haben Sie Ihre Journalismuskarriere aufgegeben und sind Vollzeitaktivist der Letzten Generation geworden. War das im Rückblick betrachtet der richtige Schritt?

Raphael Thelen: Persönlich fühlt es sich nach einer großen Befreiung an. Ich kann jetzt tun und machen, was ich für richtig halte. Wenn ich zurückspringen könnte, würde ich die Entscheidung wieder so treffen.

Politisch aber hat sich die Situation für den Klimaschutz verschlechtert. Für die Erreichung der Klimaziele läuft die Zeit davon, es gab die Debatte um das Heizungsgesetz und auch die Letzte Generation selbst ist für viele zum Hassobjekt geworden. Erfolgreich war das Jahr doch nicht?

Was mir das Jahr gezeigt hat, ist, dass es in diesem politischen System wenig um Moral, um Mehrheiten, um Wissenschaft geht. All das ist so klar auf einer Seite, trotzdem wird nicht entsprechend gehandelt. Stattdessen geht es um Macht. Ein zumindest halbwegs ambitioniertes Heizungsgesetz konnte von rechts so zerschossen werden, dass es einfach verschwindet und die Parteien dann sagen, wir machen jetzt für ein Jahr keine Klimapolitik mehr.

wurde 1985 in Bonn geboren. Dort studierte er Politik, Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Zum Beginn seiner journalistischen Karriere berichtete er zunächst aus Kairo, später schrieb er Reportagen aus Ostdeutschland über den Aufstieg der Neuen Rechten u. a. für den Spiegel. Mit dem Aufkommen von Fridays for Future wandte er sich thematisch der Klimakrise zu. Er ist Gründer des Netzwerks Klimajournalismus und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien sein Roman „Wut“. Er lebt in einer großen WG in Berlin.

Die Gesellschaft hat sich, nicht nur, aber auch beim Klimaschutz polarisiert.

Ich glaube aber, das hat auch etwas Gutes nach diesen bleiernen Jahren, in denen gar keine Politik gemacht wurde, weil alle sich so bequem in der Mitte eingerichtet hatten. Wir haben jetzt wieder mehr politische Energie im Land, wie man auch bei den 300.000 Menschen vor dem Bundestag gegen die AfD sieht. Die Letzte Generation hat daran ihren Teil, weil wir gezeigt haben, dass man Politik nicht nur aus Eigeninteresse machen kann.

Sind Sie nicht trotzdem persönlich desillusioniert? Die Letzte Generation hat immer kommuniziert, dass ihr Widerstand kurz vorm Erfolg, dem „sozialen Kipppunkt“ für eine ganze andere Politik steht.

Dieses Framing habe ich schon auch für sehr ambitioniert gehalten. Es gibt nicht die eine Handlung oder Strategie, die dann das eine gewünschte Ergebnis zur Folge hat. Die Klima­bewegung und auch die Letzte Generation vergessen zu oft, dass Gesellschaften komplexe Systeme sind, keine Maschinen, wo man A macht und dann B passiert. Wir stellen mit unseren Aktionen die Klimafrage auf fundamentale Weise, und der Weltklimarat IPCC sagt, „es braucht einen umfassenden, nie dagewesenen Wandel in allen Sektoren der Gesellschaft“, letztlich also eine Revolution. Die Alternative dazu ist der Kollaps.

Anfang 2023 verkündete Raphael Thelen seinen Wechsel vom Journalismus zur Letzten Generation. Mit dieser blockierte er ein Jahr lang Straßen, moderierte Veranstaltungen und trat für sie als Sprecher auf. Mit seinem neuen Vorhaben „Projekt Menschlichkeit“ will er der Demokratie ein Update verpassen.

Ohne Revolution geht es nicht?

Das Wort würde ich streichen.

Ohne Überwindung eines durch Wachstum getriebenen Kapitalismus …

… Kapitalismus würde ich nicht sagen.

Warum?

Es sind Wörter, die so viel kaputt machen, die so belastet sind. Aber eine Wirtschaft, die darauf basiert, unseren Planeten zu zerstören und Menschen auszubeuten, funktioniert halt nicht mehr.

Was war prägend im vergangenen Jahr?

Die erste Blockade im Januar auf der Fischerinsel in Berlin. Das geile Gefühl: Ich mache jetzt nicht mehr mit. Das andere war, als ich die zweite Massenblockade am Großen Stern moderiert habe. Da dachte ich, das, was wir hier unter dem Namen Klima machen, ist derselbe Kampf, den Menschen seit Jahrtausenden führen: Bauern gegen Aristokratie, Sklaven gegen Weiße, Frauen gegen Männer – und jetzt ist es der Kampf um Klimagerechtigkeit. Zu verstehen, dass ich Teil von etwas Größerem bin, hat mich auch ruhiger werden lassen.

Widerspricht das nicht der Erzählung der Klimabewegungen, dass man nur noch so wenig Zeit hat für die Rettung?

Das ist und bleibt physikalisch richtig. Aber wer weiß, ob sich die Klimakrise nicht schon verselbstständigt hat, und ob wir das überhaupt noch aufhalten können. Gleichzeitig ändert das nichts daran, dass wir jetzt den Menschen, die diese Katastrophe verschuldet haben und von ihr profitieren, ihr Geld wegnehmen müssen, um damit die entstehenden Schäden und das entstehende Leid auszugleichen.

Es geht also um Gerechtigkeit.

Ja. Ich will, dass es den Menschen gut geht, die in Ostafrika hungern, in Bangladesch oder im Ahrtal weggespült werden. Und ich will, dass diese Firmenbosse oder Politiker, die das alles vor 40 Jahren schon wussten, vor Gericht gezerrt werden. Da ist riesiges Unrecht geschehen. Die wussten das alles, haben es trotzdem gemacht und machen es bis heute. Und ich will, dass das aufhört.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und deswegen blockiert die Letzte Generation jetzt auch nicht mehr Straßen, sondern konfrontiert die Verantwortlichen der Klimakrise?

Ich glaube, alle in Deutschland, die das mit der Klimakrise verstehen wollten, haben es verstanden. Deswegen ist diese Feueralarmfunktion der Letzten Generation jetzt auch nicht mehr notwendig. Christian Lindner oder Friedrich Merz wissen das alles mit der Klimakrise und entscheiden sich trotzdem, sie weiter zu befeuern, für ihre eigene Macht und das Geld ihrer Freunde. Und deswegen müssen wir hingehen und diese Leute konfrontieren.

Sie waren als Journalist gut im Geschäft. Hatten Sie keine Angst vor den Konsequenzen, vor einem Verlust Ihrer gesellschaftlichen Stellung?

Als ich den Schritt gemacht habe, habe ich fast nur gute Reaktionen bekommen. Aber er hatte auch Konsequenzen, vor allem finanziell. Ich habe parallel zum Journalismus als Speaker auf Bühnen gesprochen, mit Tagesgagen bis zu 3.500 Euro. Diese Jobs bekomme ich nicht mehr, oft mit direktem Verweis auf die Letzte Generation. Gerade habe ich Bürgergeld beantragt.

Können Sie Ihren Aktivismus damit weiter finanzieren?

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Wir hatten nie Geld. Irgendwann wurde das Haus, von dem meine Eltern immer geträumt hatten, das mein Vater dann selbst gebaut hat, zwangsversteigert. Über fünf Millionen Menschen in Deutschland leben von Bürgergeld. Warum sollte ich so nicht weiter Aktivismus machen können?

Wissen Sie, wie viele Anzeigen Sie gesammelt haben?

Ich glaube, ich habe für sieben Verfahren Ordner auf meinem Laptop angelegt. Aber es sind sicherlich nochmal sieben oder zehn mehr, für die ich noch keinen Strafbefehl bekommen habe.

Macht Ihnen das Angst?

Mit meinen Mitbewohnern musste ich schon über die Gefahr von Hausdurchsuchungen reden, das trifft mich in meinem persönlichen Raum. Ein paar tausend Euro Geldstrafe lassen sich noch zusammenbekommen, aber klar habe ich Schiss vor dem Knast. So wie die Urteile ausfallen, ist es nicht unrealistisch, dass mich ein Gericht für zwei bis acht Monate ins Gefängnis schickt. Aber die Alternative kann nicht sein, nichts zu tun. Ich würde mich schlechter fühlen, wenn ich jetzt weiter für den Spiegel arbeiten würde.

Sie haben sich mit einer großen Kritik am Journalismus verabschiedet.

Ursprünglich ging es mir nur um den Klimajournalismus. Mittlerweile ist meine Kritik fundamentaler. Im Grunde wird im Journalismus nur über zwei Dinge berichtet: Konflikte und Ereignisse, die Angst machen. Unser öffentliche Raum ist von Angst und Aggression gesättigt. Das ist auch ein Problem in der Klimakrise, denn wir haben die Lösungen, wir könnten was reißen. Der Journalismus ist in Deutschland aber, und das habe ich erst spät verstanden, eine beharrende, also konservative Kraft. Dabei sollte er aufrütteln.

War Journalismus für Sie zugleich Aktivismus?

Ich habe es immer so verstanden, dass man sich für die Schwachen einsetzt und für Gerechtigkeit. Und wegen dieser Auffassung bin ich auch angeeckt. Den großen Redaktionen war ich oft ein bisschen verdächtig, und deshalb war das für mich auch immer anstrengend, weil ich nur 70 Prozent von dem, was ich denke, sagen konnte.

Sie beschreiben auf Ihrer Website, wie Sie an Bord eines Flüchtlingsrettungsschiffes im Mittelmeer nicht mehr mit dem Block in der Hand nur daneben stehen wollten.

Ich konnte nicht Leute ertrinken lassen und dabei zuschauen. Das wurde damals von der Redaktion auch akzeptiert. In der Klimafrage befinden wir uns jetzt in der gleichen Situation. Wollen wir die rettende Hand zum Globalen Süden ausstrecken und auch uns retten oder nicht? Wenn ich aber in diese Richtung geschrieben habe, hieß es, das sei nicht objektiv. Wie behämmert ist das denn?

Waren Sie schon in der Jugend politisch aktiv?

Das klingt ja, als wäre es verwerflich.

Ich bin nicht von der Zeit oder dem Spiegel.

Mit 18 bin ich bei einem Neonazi-Aufmarsch bei uns in Bonn mit meinem Bruder stundenlang durch Vorgärten und über Zäune geklettert, um auf die für die Nazis abgesperrte Route zu kommen und zu blockieren. Zum Schluss saßen wir beide einen Tag im Knast, weil es uns gelungen war.

Vor dem Klimathema haben Sie sich vor allem mit der extremen Rechten beschäftigt.

Als ich damals zum ersten Mal eher zufällig bei Pegida in Dresden war, habe ich in mein Tagebuch geschrieben, dass es denen nicht nur um Geflüchtete geht, sondern auch um mich und alle meine Freund:innen. Damals wollte ich verstehen, wo kommen diese ganzen Leute, diese Wut, dieser Hass her. Und ich hatte noch geglaubt, dass darüber zu schreiben ausreicht, damit das wieder weggeht.

Und als Sie später das Klima verstehen wollten, sind Sie für ein Buchprojekt mit Ihrer damaligen Partnerin zu einer Weltreise durch die Klimazonen aufgebrochen.

Der Gedanke war: Was kann man für eine Recherche machen, die in ihrer Größe der Klimakrise angemessen ist? Der wahnsinnige Plan war, von Südafrika über Land bis in die Arktis zu reisen. Durch Corona aber mussten wir früher zurück, hatten dann vier Monate auf dem Land in einer Community gelebt. Da habe ich verstanden, dass mein Karrierejournalismus letztlich das kleinste Rad in dieser großen Maschine ist, die den Planeten zerstört. Da bin ich rausgekippt aus der Welt, die nur auf höher, schneller, weiter aus ist.

Nach dem Jahr mit der Letzten Generation wenden Sie sich jetzt mit dem „Projekt Menschlichkeit“ der Demokratiefrage zu. Wieso?

Es wird keine Demokratie mehr auf einem toten Planeten geben oder wenn sich die AfD durchsetzt. Schon jetzt ist unsere Demokratie gehackt. Politik wird nicht für die Mehrheit gemacht, die Macht liegt bei Konzernen, der Springer-Presse, deren größter Anteilseigner KKR massiv in fossile Energien investiert. Milliardäre werden reicher und Lobbyisten einflussreicher, während das Bürgergeld von der Inflation aufgefressen wird, und zehn Millionen Zugewanderte gar nicht wählen dürfen. Und weil sich das ganze repräsentative System so festgefahren hat, schaffen wir es auch nicht, die großen Lösungen zu bauen, die die Klimakrise bräuchte. Deswegen wollen wir Formate finden, eine Bewegung schaffen, in die Menschen mit ihrem Frust reingehen können.

Wie soll das aussehen?

Ich verstehe die wachsende Wut vieler Menschen auch als Willen zu mehr Selbstbestimmung. Wir organisieren lokale Versammlungen, in denen wir die Frage stellen: Wie wollen wir zusammenleben? Danach kann man eine Petition schreiben, Bäume pflanzen oder man geht zum Bürgermeister und bleibt da so lange, bis der mit uns spricht, oder bleibt auch da, wenn er das nicht will. Und wenn man das an 100 Orten gleichzeitig macht, ist die Hoffnung, dass sich zeigt, dass es überall ähnliche Probleme gibt, versteht, dass es sich um ein systemisches Problem handelt.

Und dann?

Dann reden wir hoffentlich auch auf Bundesebene über Macht, darüber, dass unser demokratisches System unsere Interessen nicht mehr abbildet, darüber, einen ständigen Bürgerrat zu bauen und unsere Demokratie demokratischer zu machen. Wir starten gerade einen Wettbewerb für Verfassungsrechtler:innen, um ein Verfassungs-Update zu ­schreiben, das mehr Mitbestimmung ermöglicht.

Ist das nicht die noch utopischere Aufgabe, als sich für eine adäquate Reaktion auf die Klimakrise einzusetzen?

Es gibt in progressiven Kreisen so eine Geschichtsvergessenheit, als wären all die gesellschaftlichen Errungenschaften schon immer da gewesen. Aber die wurden alle irgendwann erkämpft. Wer sagt denn, dass unser Wirtschaftssystem nicht bald schon wieder zusammenbricht, wie 2008, und plötzlich die riesige Chance da ist, ganz, ganz viel ganz schnell zu verändern? Es lohnt sich, groß zu träumen.

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