Tiefgefrorene Ukrainedebatte: Im Westen nichts Neues

Mützenich und Strack-Zimmermann sind Putins stärkste Verbündete: Der eine will ihm nicht die Stirn bieten, die andere Politik nicht sozial abfedern.

Stay und true ist auf die Hände eines Soldaten tätowiert

Foto: Serhii Nuzhnenko/Radio Free Europe/reuters

Auch wenn die Nachrichtenkanäle einen die Woche über mit Tiefkühlfantasien, Jugendoffizieren, Zivil- und Heimatschutz zuballerten: An der einzigen Front, an der Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine gewinnen kann – nennen wir sie die Mützenich-Front –, herrscht Stillstand.

Denn schon im Juli 2022, ein knappes halbes Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat der Journalist und Schriftsteller Stephan Wackwitz in der taz geschildert, auf welch fruchtbaren Boden der Infokrieg des Moskauer Mafiaregimes in bestimmten westlichen Milieus fällt.

In einem Bericht über ein Veteranentreffen des Marxistischen Studentenbunds Spartakus kamen laut Wackwitz, der selbst mal Mitglied in der DKP-Organisation war, „gestandene Gewerkschaftsfunktionäre, Studiendirektorinnen, Chefredakteure, Germanistinnen und Agrar­ingenieure“ zusammen, Leute „zwischen DGB, Linkspartei und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit“. Die Mehrzahl von ihnen plädierte schon damals „für Verhandlungen, ukrai­nische Gebietsabtretungen, ‚Kompromisse‘ – und natürlich für den All-Time-Classic des real existierenden Sozialismus von alters her, den ‚Kampf für den Frieden‘.“

Klar: Wer für den Frieden kämpft, ohne den Angegriffenen überhaupt wahrzunehmen, der kann schlicht nicht anders, als ihn aufzufordern, den Widerstand einzustellen. Nicht die Rea­li­tät bestimmt hier das Denken, sondern die Abwehr derselben, nicht die Empathie mit dem Opfer, sondern die Angst vor dem Täter.

Mützenich nach Hessisch-Sibirien?

Insofern ist die andauernde Empörung über die Aussagen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der in der Bundestagssitzung vom 14. März der Nation im Vorfeld des Superwahljahrs die Frage vorgelegt hatte, ob es nicht an der Zeit sei, „auch darüber nachzudenken, wie man den Krieg in der Ukraine einfrieren und später beenden kann“, verständlich, aber etwas überflüssig.

So überflüssig, wie es in einer noch einigermaßen offenen Debattenkultur Ermahnungen sind, solche Aussagen müsse man in diesem Land denken können: Man darf sie denken, man soll sie aussprechen, sie werden auf allen Kanälen gesendet, und niemand kommt dafür in ein Straflager in Hessisch-Sibirien oder wird mit Nowitschok vergiftet.

Am Ende hat man dann sogar einen schönen Slogan für den Wahlkampf – den vom „Friedenskanzler Scholz“. Putins ehemaliger Angestellter Gerhard Schröder fragte nicht umsonst verschmitzt: „Wenn jemand als ‚Friedenskanzler‘ beschrieben wird, ist das denn negativ?“

Nichts Neues an der Mützenich-Front also; an der realen Front im Osten tut sich auch nichts Kriegsentscheidendes – was bei den Kräfteverhältnissen immer noch ein mit größten ukrai­nischen Opfern erkämpftes Wunder ist, ein fortdauernder Sieg. Und schließlich ist Ex-Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet zuzustimmen, der in einem klugen Gespräch zur Lage in Deutschland zwischen innerer und äußerer faschistischer Bedrohung gesagt hat: „Rechtsextreme darf man nicht hinnehmen. Aber in Fragen von Krieg und Frieden darf man unterschiedlicher Meinung sein. Auch wenn ich sie nicht teile.“

„Solidaritätszuschlag Freie Ukrai­ne“

Die Unterstützung für die Ukrai­ne bedarf eben tatsächlich demokratischer Legitimation. Um die müssen wir kämpfen. Der Gegner bei diesem Kampf ist nicht nur Rolf Mützenich, sondern genauso Marie-Agnes Strack-Zimmermann und ihre Partei, die FDP. Denn wenn in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird und wir uns das deswegen so viel kosten lassen müssen, wie es kostet – what­ever it takes eben –, dann ist das mit einer Politik, die auf der Schuldenbremse steht und die sozial-ökologische Modernisierung tagtäglich hintertreibt, nicht zu machen.

Jeder Diskurs über zu liefernde Waffensysteme bleibt schal, wenn nicht gleichzeitig das ganze Land mobilisiert und motiviert wird. Und das bedeutet auf der entscheidenden materiellen Seite, dass diejenigen Opfer bringen müssen, die sie sich leisten können.

Die FDP als Partei der „Leistungsträger“ hat gerade die historische Aufgabe, ihre Klientel an den Gedanken eines von ihr – und ihr allein – zu stemmenden „Solidaritätszuschlags Freie Ukrai­ne“ heranzuführen, anstatt einzufordern, was man selbst nicht beizutragen bereit ist, wie es eigentlich das Wesen der räuberischen Regionalpartei CSU ist („Ich kenne wenige Minister, die so viel Geld nach Bayern holen wie der Andi Scheuer“, Markus Söder, 2021).

Die Mützenich-SPD und die Strack-Zimmermann-FDP sind nur zwei Seiten der Wette, die Putin wie jeder Mafioso hält: dass nämlich der demokratische Staat zugleich angstgelähmt und unsozial ist; dass er seinen Bür­ge­r:in­nen so wenig zutraut, wie er ihnen gönnt.

Ein beispielloser Augenblick

Nicht umsonst hat US-Präsident Joe Biden seine Rede zu Lage der Nation mit einem Zitat seines Vorgängers F. D. Roose­velt eröffnet: „Ich wende mich in einem in der Geschichte der Union beispiellosen Augenblick an Sie.“ Und Biden fuhr fort: „Präsident Roosevelt wollte den Kongress wachrütteln und die Amerikanerinnen und Amerikaner darauf aufmerksam machen, dass dies keine gewöhnlichen Zeiten waren. Freiheit und Demokratie waren auf der ganzen Welt in Gefahr.“

Und weiter: „Das Besondere an der jetzigen Situation ist, dass Freiheit und Demokratie gleichzeitig von innen und außen angegriffen werden. Im Ausland ist Russlands Putin auf dem Vormarsch, marschiert in die Ukrai­ne ein und stiftet Chaos in ganz Europa und darüber hinaus. Sollte irgendjemand in diesem Raum meinen, Putin würde bei der Ukraine haltmachen, dann versichere ich Ihnen: Das wird er nicht.“

Unter Roosevelts Führung lag in den USA am Ende „der Spitzensteuersatz bei 79 Prozent und die Erbschaftsteuer bei 77 Prozent“ (Ulrike Herrmann, „Von Roosevelt lernen“, taz 23. 10. 2011). Aber auch die Art und Weise, wie Biden die US-amerikanische Öffentlichkeit angesprochen hat, verweist auf eine Leerstelle hierzulande.

„Meine Botschaft an Präsident Putin, den ich schon sehr lange kenne, ist ganz einfach: Wir werden nicht weglaufen. Wir werden nicht uns nicht unterwerfen. Ich werde mich nicht unterwerfen“, sagte Biden. Eine so warme, humane, mutige Rhetorik, ein Aufruf mit historischer Tiefenschärfe, demokratischem Pathos und verständlicher – ach! – Definition des zu Leistenden wie des Ausgeschlossenen fehlt in unserem eingefrorenen Land. Dabei wäre genau das tatsächlich an der Zeit.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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