Die Wahrheit: Der brummende Koffer

Nach einer Bahnfahrt beginnt ein Gepäckstück verdächtig zu vibrieren, und der Besitzer kann nichts tun, als auch noch die Macht des Zufalls zuschlägt.

Der Mann hob seinen schwarzen Koffer von der Ablage. Es war ein elegantes Gepäckstück, nicht groß, ideal für eine Übernachtung. Da der Mann aber gern zu viele Dinge mitnahm für nur eine Nacht, war der schwere Klotz dicht gepackt, und als er ihn vor dem Bahnhof, in den sein Zug nun einfahren würde, mit nicht geringer Anstrengung zu Boden brachte, da begann der Koffer zu brummen.

Das Brummen war durchdringend, nicht übermäßig laut, dennoch wurde es von den übrigen Reisenden wahrgenommen, denn der Koffer zitterte auch, als ob er sich dem Ausstieg widersetzen wollte, weil ihn auf dem Bahnsteig eine beinahe winterliche Kälte erwartete.

Der Mann ahnte, woher das nicht enden wollende Vibrieren kam, das jetzt manchem Mitreisenden die Augenbrauen in die Höhe trieb. Offenbar hatte sich das Rasiergerät selbst eingeschaltet. Da der Mann jedoch im engen Gang kaum den prallen Koffer hätte öffnen können, entschloss er sich, den Halt abzuwarten, um den leidigen Vorgang dann abzubrechen.

Im windigen Gewusel auf dem Bahnsteig war es ihm allerdings wieder nicht möglich, einzugreifen, und so beschloss der Mann, zunächst die drei Stationen bis zu dem Hochzeitsempfang, zu dem er eingeladen war, mit der Stadtbahn zurückzulegen. Minutenlang verharrte er starr neben seinem brummenden Koffer, wobei ihm die gedrängte Menge während der Fahrt ohnehin keinen Platz bot, dem schier unaufhörlichen Geräusch ein Ende zu bereiten.

Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte ignorierte der Mann die besorgten Blicke einer Violinistin, die nicht nur ihren Geigenkasten geschultert hatte, sondern auch einen, zwar nicht schnarrenden, so doch ähnlichen schwarzen Koffer mit sich führte, weshalb sich in ihrem Gesicht tiefe Sorge widerspiegelte, ob das Brummen womöglich auf ihr Gepäckstück übergreifen könnte.

Am Zielbahnhof angekommen, griff sich der Mann eilig seinen brummenden Koffer und stürmte die Stufen hinunter. Zunächst war es ihm unangenehm, aller Welt auf offener Straße seine Habseligkeiten zu präsentieren, doch schließlich hielt er es nicht mehr aus und warf den Koffer am Rande des tosenden Verkehrs hin, öffnete ihn und machte dem tückischen Apparat endgültig den Garaus. Der Mann atmete auf.

In diesem Moment der Erleichterung übernahm die Macht des Zufalls die Kontrolle über das Geschehen. Aus dem Tunnel vor der großen Kreuzung, an der unser Mann niedergekniet war, schoss ein Motorrad hervor und der Fahrer kam, wie es später in der Polizeimeldung heißen würde, „aus bislang unbekannten Gründen“ nach links von der Fahrbahn ab, kollidierte mit der Schutzplanke, rutschte mit der Maschine über die nasse Straße und prallte gegen eine Ampel.

Sofort alarmierte Einsatzkräfte hätten den Gestürzten reanimiert, erfuhr anderntags der Mann, der längst mit seinem nun nicht mehr brummenden Koffer weitergezogen war. Das Leben, es reist weiter.

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Jahrgang 1961, lebt in Berlin-Friedenau und ist seit dem Jahr 2000 Redakteur für die Wahrheit-Seite der taz.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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