Unwort des Jahres 2022: „Klimaterroristen“ kriminalisiert
Sprachwissenschaftler:innen küren „Klimaterroristen“ zum Unwort des Jahres. Es stelle berechtigten Widerstand in einen staatsfeindlichen Kontext.
MARBURG afp/dpa/epd/taz Der Begriff „Klimaterroristen“ ist das Unwort des Jahres 2022. Mit dem Begriff würden pauschal Menschen diskreditiert, die sich für Klimaschutzmaßnahmen und die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens einsetzten, begründete die überwiegend aus Sprachwissenschaftler:innen zusammengesetzte Jury am Dienstag im hessischen Marburg ihre Entscheidung. Klimaaktivisten würden so mit Terroristen gleichgesetzt und dadurch kriminalisiert.
Mit der Gleichsetzung der Klimaaktivisten mit Terrorismus würden gewaltloser Protest und demokratischer Widerstand in einen staatsfeindlichen Kontext gestellt. Der Fokus der Debatte verschiebe sich zudem von den aus Sicht der Jury „berechtigten inhaltlichen Forderungen“ zum Umgang mit den Aktivisten.
Die globale Bedrohung durch den Klimawandel gerate in den Hintergrund – das gelte auch für die Forderung der Aktivisten, die Krise durch wirksame politische Maßnahmen zu bekämpfen. Im Vordergrund stehe, wie mit den Protestierenden politisch und juristisch umzugehen sei.
Der Begriff „Klimaterroristen“ wurde in den letzten Jahren immer wieder von Politikern der AfD genutzt. Politiker anderer Parteien versteiften sich zuletzt eher auf Begriffe wie „Klima-RAF“ oder „Grüne RAF“.
Letzterer war ursprünglich von dem Klima- und LGBT-Aktivisten Tadzio Müller aufgebracht worden, der vor anderthalb Jahre zunächst in der taz für „friedliche Sabotage“ plädiert hatte und im Dezember 2021 in einem Spiegel-Interview prophezeite: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF“. Das Label löste größere Diskussionen auch in der Klimabewegung aus, war aber auch eine Steilvorlage für alle, die Klimaaktivist:innen Gewalt unterstellen wollten. Im Dezember 2022 hatte Müller in einem weiteren Interview seine Aussagen als Fehler bezeichnet.
„Sozialtourismus“ auf Platz 2
Auf Platz zwei setzte die Jury in diesem Jahr den Ausdruck „Sozialtourismus“, der 2013 zum „Unwort“ gekürt worden war. CDU-Chef Friedrich Merz hatte das Wort im vergangenen September im Zusammenhang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine verwendet und sich später dafür entschuldigt. Die Jury sah in dem Wortgebrauch „eine Diskriminierung derjenigen Menschen, die vor dem Krieg auf der Flucht sind und in Deutschland Schutz suchen“. Zudem verschleiere das Wort ihr prinzipielles Recht darauf.
Auf Platz drei kam die Formulierung „defensive Architektur“, die als irreführend und beschönigend kritisiert wurde. Der Ausdruck bezeichnet eine Bauweise, die verhindert, dass sich etwa Wohnungslose länger an öffentlichen Orten niederlassen können.
Beim Unwort des Jahres werden seit 1991 nach Auffassung der Fachleute unmenschliche oder unangemessene Begriffe ausgewählt, die gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen, in irreführender Weise etwas Negatives beschönigen oder diskriminieren. Die überwiegend aus Sprachwissenschaftler:innen zusammengesetzte Jury will damit insgesamt auf „undifferenzierten, verschleiernden oder diffamierenden öffentlichen Sprachgebrauch“ aufmerksam machen und Menschen für das Thema sensibilisieren.
Das „Unwort des Jahres“ wurde nach verschiedenen Kriterien aus Vorschlägen ausgewählt, die Interessierte bis zum 31. Dezember 2022 eingereicht hatten. Insgesamt gab es 1.476 Einsendungen mit 497 verschiedenen Begriffen, von denen knapp 55 den Kriterien der Jury entsprachen.
Im vergangenen Jahr wurde der Begriff „Pushback“ zum Unwort des Jahres gekürt. Damit werde ein menschenfeindlicher Prozess des Zurückdrängens von Flüchtenden an den Grenzen beschönigt, erklärte das Gremium damals zur Begründung.
2020 gab es mit „Corona-Diktatur“ und „Rückführungspatenschaften“ erstmals ein Unwortpaar. Die Unwörter der Vorjahre lauteten “Klimahysterie“ (2019), „Anti-Abschiebe-Industrie“ (2018) und “alternative Fakten“ (2017).
Vor einem Monat hatte die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres 2022 gekürt.
Leser*innenkommentare
Rudolf123
In Berlin ist bei einem Unfall einer Frau ein Bergungsfahrzeug durch Klimaaktivisten aufgehalten worden. Da die Klimaaktivisten zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnten, ob das Fahrzeug bzgl. Leben und Tod der Frau entscheidend ist, haben sie somit den Tod der Frau in Kauf genommen.
Die Klimaaktivisten mögen keine Terroristen sein, aber es sind definitiv auch keine tapferen Widerstandskämpfer, zu denen Medien sie machen.
Ricky-13
Wenn man mit „Klimaterroristen“ die Verursacher des Klimawandels meint, dann stimmt das Wort doch.
Nach dem jüngsten Bericht des Club of Rome werden die Treibhausgas-Emissionen 2030 ihren Höhepunkt erreichen, und ab da wird ein sich selbst verstärkender Klimawandel ausgelöst. Wenn unsere Politiker nichts tun, dann müssen eben die jungen Klimaschutzaktivisten gegen die wahren Klimaterroristen etwas unternehmen (siehe hierzu auch Art. 20 Abs. 4 GG).
Jalella
@Ricky-13 Genau, so sehe ich das auch. Es gibt durchaus Klimaterroristen. Die nämlich, die - man kann mit Blick auf die Prügeleinen der Polizei schon fast sagen 'mit Gewalt' - jegliche Aktivitäten zur Bewältigung der Katastrophe ver- und behindern.
weidedammer
Für das nächste Jahr schlage ich als Unwort des Jahres "Unwort" vor.
DiMa
Ein Wort, welches mangels Verwendung überhaupt keine Bedeutung hat, wird also Unwort des Jahres.
Die Jury sollte zukünftig darauf achten, dass die Wort durch Nutzung eine gewisse Relevanz haben.
Irgendwelche kaum beachteten Hinterbänkler der AfD sollten dafür jedenfalls nicht ausreichen. Durch solche "Ritterschläge" sehen die sich doch nur bestätigt.
Möglicherweise hat die Jury jedoch erst das Thema festgelegt und sich dann ein passendes Wort dazu ausgesucht. Anders ist das Ergebnis kaum zu erklären.
Jalella
@DiMa Ja, ich hätte "Sozialtourismus" nicht schlecht gefunden als Unwort.
Bolzkopf
Terroristen sind Menschen, die die Weltordnung zerstören, die Angst schüren und denen es scheißegal ist wenn tausende zu Tode kommen, nicht wahr?
Dann Frage ich jetzt mal: Wer jetzt sind denn die wahren Klimaterroristen?
Wer verweigert sich denn mit beispielloser Vehemenz z.B. dem Tempolimit?
Na, wer ?
Theseus
Protest ? JA ! Aber bitte staatstragend.
Rudolf Fissner
"Politiker anderer Parteien versteiften sich zuletzt eher auf Begriffe wie „Klima-RAF“ oder „Grüne RAF“."
„Grüne RAF“ war kein Begriff der von einem Politiker einer Partei in die Welt gesetzt wurde, sonder im SPIEGEL von Tazido Müller, Mitbegründer der Extinsion Rebellion und aktive bei der Interventionistischen Linke. ( www.spiegel.de/pol...-ab23-45dfb0d2db89 )
Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
@Rudolf Fissner Ja, genau deshalb steht das doch auch genauso im Text. Wo ist das Problem?
Mondschaf
@Gereon Asmuth "Wo ist das Problem?"
In Bremen und/oder umzu.
Rudolf Fissner
@Gereon Asmuth Ja aber nur als "Tazido Müller", der gemäß Satz zuvor (siehe Zitat) dann ein "Politiker anderer Parteien" sein muss. Was ja nicht stimmt.
Und ja, ich weiß es klingt natürlich bescheuert, wenn man erwähnt, dass solche Begriffe auch auf dem Hügel der Klimabewegung wachse. Das ist dann wie mit des Kaisers neue Kleider. Aber dafür ist die taz ja da! 🤪
Tom Farmer
Die Unwörter des Jahres stehen lustigerweise häufig im Kontext konservativster Herkunft und Angst vor Änderungen. Alternative Fakten, Volksverräter, usw. Dieses Jahr eben Klimaterroristen. Sozusagen ein Indikator wo man politisch und emotional verortet ist.
resto
@Tom Farmer Ich persönlich (4*geimpft und alle Maßnahmen mitgemacht) hätte "Covidioten" gewählt. Da mich empört hat, wie die Vorsitzende einer ehemaligen Arbeiter:innenpartei unterschiedliche Menschen, die unterschiedliche Kritik äußern, dermaßen pauschalisiert diffamiert. Finde ich immer noch ein Skandal.
gyakusou
@Tom Farmer Was daran liegt, dass diese Sprachjury gezielt Wörter und Begriffe anprangert, die "gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind."
Das zielt also immer in die gleiche politische Richtung.
Šarru-kīnu
@Tom Farmer Sieht für mich eher so aus als würden immer ganz gezielt die talking points des politischen Gegners zu Unworten des Jahres erklärt. Scheinbar gibt es jedes jahr erneut Bedarf im gleichen Themenkomplex ein neues Wort auf den Sprachindex gesetzt. Das Setzen von Tabus ersetzt aber keine dringend notwendigen gesellschaftlichen Debatten.
resto
@Šarru-kīnu Absolut d'accord. Wird eigentlich langweilig.