Der gnadenlose GDL-Chef: Die Wut auf Weselsky ist nur Neid

Sogar Linke fluchen über GDL-Chef Claus Weselsky. Aber eigentlich bräuchten wir alle einen wie ihn.

GDL-Vorsitzende Weselsky bei einer Pressekonferenz.

Role model für andere Arbeitskämpfer? GDL-Vorsitzender Claus Weselsky lässt viele Rot sehen Foto: Christoph Soeder/dpa

Achtung, Triggerwarnung! In dieser Kolumne geht es nicht um das N-Wort in Kinderbuchklassikern oder die Darstellung von Gewalt, aber trotzdem scheint ein Warnhinweis für Leser mit hohem Blutdruck angebracht: Es geht um Claus Weselsky. In der Whatsapp-Gruppe der Familie wird über den Vorsitzenden der Lokführer-Gewerkschaft geflucht, im angeblich linken Freundeskreis hieß es in den vergangenen Wochen mehrfach „FCK WSLSKY!“, und die Kommentare in vielen Zeitungen klingen nur unwesentlich höflicher.

Leidenschaftlich wird diskutiert, ob die Forderung der GDL nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden in der Woche nun angemessen ist oder nicht. Wirtschaftsminister Robert Habeck schaltete sich in dieser Woche ein und sagte, es müssten eigentlich alle mehr arbeiten, nicht weniger. Es werde „ein bisschen im Moment zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt beziehungsweise geworben“. Man merkt der Formulierung an, dass Habeck selbst etwas überarbeitet ist.

Habecks Aussage erinnert an einen seiner Vorgänger, Ludwig Erhard. Als die Gewerkschaften für die Einführung der 40-Stunden-Woche kämpften, erklärte er einige Tage vor dem 1. Mai 1955 auf der Industriemesse in Hannover: „Die westdeutsche Wirtschaft kann sich den Luxus der 40-Stunden-Woche vorläufig nicht leisten. Es ist noch zu früh.“

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Die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten hat eine lange Tradition. Auch die 5-Tage-­Woche ist nicht vom Himmel gefallen. Samstag gehört Vati uns, das war damals die For­derung. Und die 35-Stunden-Woche, die Habeck mit seinem Statement nun indirekt verteufelt, wurde in den 80er-Jahren durch wochenlange Streiks in der Metallindustrie durchgesetzt.

Habeck argumentiert mit dem Fachkräftemangel gegen die Arbeitszeitverkürzung: 700.000 Stellen sind in Deutschland unbesetzt. Damit hat er einen Punkt. Trotzdem sollten sich politisch Verantwortliche darauf konzentrieren, die Bedingungen für klimaschutzrelevante Branchen wie die Bahn zu verbessern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern, statt einfach nach längeren Arbeitszeiten zu rufen. Dann gäbe es auch mehr Menschen, die Lokführer werden wollen.

Streik ist keine Einladung zum Debattierclub

Aber Habeck ist nicht allein mit seiner Kritik an Weselsky und dem Bahnstreik. Irgendwie scheinen alle besser zu wissen, was für die Lokführer gut ist, als sie selbst.

In Deutschland herrscht eine merkwürdige Vorstellung von Streik vor. Ganz so, als ob ein Streik eine Art Einladung zum Debattierclub wäre, zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber. Und am Ende gewinnt im zwanglosen Zwang das bessere Argument.

Dabei geht es gar nicht darum, ob die GDL und Claus Weselsky mit ihrer Forderung Recht haben. Sondern nur darum, ob sie die Macht haben, sie durchzusetzen. Eine Gewerkschaft vertritt die Interessen ihrer Mitglieder. Es ist nicht ihr Problem, wenn ihre Forderungen zu teuer sind. Das ist das Problem des Arbeitgebers. Der kann dann immer noch auf Gewinn verzichten, die Preise erhöhen, Mitarbeiter entlassen, an anderer Stelle sparen.

Ich glaube, jede Branche könnte einen Weselsky brauchen. Eine schöne Vorstellung wäre das, wenn eine Journalistengewerkschaft so einen kernigen Vorsitzenden mit Schnurrbart hätte.

Man merkt Habeck an, dass er selbst etwas überarbeitet ist

Weselsky verkörpert das, wonach sich alle Deutschen heimlich sehnen: Die alte Bundesrepublik, in der der Sachse Weselsky selbst nie lebte: Mit starken Gewerkschaften, guten Löhnen, einer weniger gespreizten Schere zwischen Arm und Reich. Mit insgesamt weniger Lohnarbeit, weil damals noch ein Vollzeitjob für eine Familie ausreichte.

Hinter der Wut auf Weselsky steckt bei vielen vor allem: Neid.

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Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.

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